ICH SELBST

Wo Gott und Mensch waren, bin ich selbst.

Wo Leib und Geist waren, bin ich selbst.

Wo Glaube und Gedanke waren, bin ich selbst.

Wo Hoffnung und Sehnsucht waren, bin ich selbst.

Wo Hierarchie und Freiheit waren, bin ich selbst.

Ich selbst – einzeln und eigentlich!

Ich selbst bin mein eigener Zweck –

Mittel für Nichts und Niemanden.

 

Dieser kleine Text ist inspiriert von der Lektüre zweier Bücher. „Der Einzige und sein Eigenthum“ von Max Stirner und „Hymne“ von Ayn Rand. Beide Vertreter eines „ethischen Egoismus“. Der Eine die Moral komplett destruierend, die Andere die Maßstäbe ihres „Objektivismus“ setzend. Beiden gemeinsam ist das Recht des Einzelnen, des Individuums uneingeschränkt über sein Eigenes – oder sein Eigentum – zu verfügen. Während Stirner von der Verzehrung, dem Verbrauch des Eigenen spricht, betont Rand u.a. den Schutz dieses Eigenen vor dem Zugriff Anderer (bspw. des Staates, der Allgemeinheit).

 

Der Einzelne – oder Eigner – steht im Zentrum des Interesses: Er als Selbstzweck ohne zum Mittel eines fremden Zwecks herabgewürdigt zu werden. Stirner entlarvt selbst die Freiheit (sowohl die „von“ als auch die „zu“ Etwas) als eine gedankliche Konstruktion.

 

Diese wird zum neuen Herrscher des Menschen, diese Idee verfolgt ihn, sie ist jedenfalls die Richtschnur, die neue Norm, an der sich das wirkliche Tun ausrichtet. Und diese Ausrichtung an etwas Fremdem (sei es einer Idee, einem Ideal oder einem Prinzip) belässt das Unterfangen des Freiheitssuchenden im Streben. Ein Streben, dass im Kontrast zum tatsächlichen Tun und Sein steht. Das Ziel ist es dabei, diese Diskrepanz zwischen „Ist“ und „Soll“, diesen „Mangel“ zu beseitigen. In jedem Fall ist der Akteur dieser Freiheitssuche – nämlich der Einzelne – sich selbst nicht genüge. Es bedarf der „Höherpolung“, der „Weiterentwicklung“ zu Etwas, das man (noch) nicht ist. Aber man wünscht die Erfüllung dieses Wunsches herbei und setzt Mittel und Ressourcen ein, um ihn zu verwirklichen, ihn zu realisieren. Eine Idee soll Realität werden. Gedanken sollen sich manifestieren. Etwas soll „umgesetzt“ werden, was noch nicht ist. Dieses „Werden“ und die damit verbundene (Ver-)Änderung wird verfolgt, teils mit Kraft und Willen, teils durch Regulation. Die Freiheit (in beiden Spielarten) ist nur wiederum Idee, der man sich „verschreiben“ oder sich widmen kann. Die Überhöhung der Idee führt zum „über-leben“, zum „Über-Menschen“. Der Mensch will über sich selbst hinauswachsen, etwas (das er nicht ist) sein – nein: werden! Das kann kein Ende nehmen. Es bleibt beim dauerhaften Versuch, denn so etwas wie Freiheit gibt es nur als abstrakte Idee, als Gedanke. Ganz etwas Anderes ist es, sich frei zu fühlen. Dies muss aber nicht das Resultat des Strebens nach der Freiheit sein, es kann (und dieser Meinung bin auch ich) einfach geschehen, indem der Einzelne tut, was und wie er es tut. Ich habe es schon oft gesagt: „Es gibt nichts zu erreichen!“. Und der beschwichtigende Spruch „Alles wird gut!“ könnte in ein „In mir und aus mir ist Alles“ umgedeutet werden. Denn auch das „Gute“ entpuppt sich bei näherer Betrachtung wie alle Werte als Idee, als gedankliche Konstruktion. Und diese Konstruktion entsteht im Einzelnen und hat nur für diesen eine greifbare und wirkliche Existenz – genau dann, wenn er handelt! Im Handeln selbst ist „das Gute“ oder „die Freiheit“ aber nur vom Einzelnen selbst beurteilbar und ermessbar. Ein Anderer mag das ganz anders sehen oder konstruieren.

 

Das allgemeine Gesetz, die Moral als verbindliche (wie passend: denn was ist eine erzwungene Bindung anderes als Fessel?) Richtlinie für die Gesellschaft oder Gruppe entspringen kultureller und historischer Illusionen. Sie werden dem Kind bereits früh durch Enkulturation aufgezwungen. Doch Zwang setzt voraus, dass jemand etwas Anderes will, als er soll! Hat ein Kind einen Willen? Und wenn ja ab wann? Diese Fragen drehen sich direkt um den Willen – eine weitere gedankliche Konstruktion. Dabei wird häufig wie selbstverständlich übersehen, dass es eines Wollenden bedarf, damit Wille sich – gerade in der Differenz zum Gesollten – zeigen kann (nämlich im widerstrebenden Handeln). Und meines Erachtens hat ein Kind sehr wohl dieses Eigene, das Wille erst ermöglicht. Und das Kind sucht sein Eigenes – während es gleichzeitig gerade sein Eigenes tut. Dieses Eigene ist noch nicht überlagert von Ideen und Gedanken. Es entzieht sich der Sprache in den ersten Lebensmonaten. Aber genau dieses „Eigentliche“ bildet die Differenz zur Welt. Und die Enkulturation macht das Kind überlebensfähig im zweifachen Sinn: sein eigenes Leben zählt weniger als die Werte seiner (Um-)Welt und es soll sein Eigenes aufgeben, um zu wachsen.

 

Die Zumutung der modernen (liberalen) Welt besteht darin, den Menschen als noch nicht menschlich zu betrachten. Menschlich werde er erst durch die Freiheit. Der freie Mensch sei erst der „wahre Mensch“. Daher entfernt die Moderne Gott und Göttlichkeit samt aller Heiligkeit und setzt Mensch, Menschlichkeit und das Profane an deren Stelle. Ich finde beide Spielarten (die Hierarchie der traditionalen und die Egalität der modernen Weltsicht) nicht sonderlich attraktiv. Aber nicht wegen der Inhalte, die beide Weltsichten so mit sich bringen, sondern wegen ihrer formalen Konstruktion. Solange die Positionen dieser beiden Sichten etwas Anderes als das Eigene dem Menschen aufgeben: ein Schicksal zu erfüllen oder seinen Willen zu tun, wird dem Einzelnen in beiden Fällen eines abgesprochen: sich selbst jetzt bereits genüge zu sein! Man mag (aus moderner Sicht) einwenden, was denn so fremd daran sei, seinen Willen zu tun? Dies liegt einfach daran, dass es eine Aufforderung, ein Appell ist, überhaupt irgendetwas zu tun (sei es mit oder ohne Willen). Der Einzelne tut nämlich sowieso die ganze Zeit – ganz ohne jede Aufforderung, Befehl oder Zwang. Nur eben nicht unbedingt das, was ein Anderer oder – noch grässlicher: die Allgemeinheit – von ihm verlangt oder erwartet. Wenn aus traditionaler Sicht (bspw. Von Evola) eingewendet wird, die Hierarchie sei notwendige solare Organisation, die von der unbesiegten Sonne (sol invictus) ausstrahle, stellt sich unwillkürlich die Frage, wozu es denn der Hierarchie bedürfe, wenn der Mensch bereits „automatisch“ im Gefüge „funktioniere“.

 

Menschen müssen nicht erst Menschen werden, womöglich über sich hinaus wachsen, ihre Talente entfalten, sich frei oder passend entwickeln oder in ihren Kasten funktionieren. Alle diese Gedankenfetzen haben Eines gemeinsam: Der Mensch muss sich irgendeiner Idee fügen und dafür auch noch etwas tun. Aber genau das ist Herrschaft! Nicht eine des Menschen über den Menschen in ihrer hierarchischen Rolle und Position wie in der traditionalen Welt, sondern in den modernen Zeiten eine der Ideen und Gedanken über den Einzelnen. Was mir passt und was nicht habe ich erfahren. Ich habe mir Gedanken zu Eigen gemacht. Erst dann konnte ich sie loslassen oder behalten. Wie es mir eben gefiel. Solange ein Gedanke nicht meine eigener geworden ist, habe ich auch kein Eigentum an ihm. Und wenn ich das Eigentum am Gedanken – oder irgendeinem Ding – habe, tu ich damit, was immer mir gefällt und wie es mir gefällt. Mit nur halb angeeigneten Dingen oder Gedanken gelingt das im humorvollsten Fall eher tollpatschig. Jedenfalls nicht sehr originell!

 

Ich schreibe mich gerade erst warm. Bis hierhin kann ich mich abstützen auf die Gedanken Anderer. Der nächste Schritt führt zu mir selbst. Und während ich mir die traditionale und moderne Weltsicht zu Eigen gemacht habe, zog es mich immer schon weiter – zu mir! Und während ich so suchte und manche Idee, manchen Menschen, den ein oder anderen Gott gesehen und gespürt oder verstanden habe, habe ich Alles assimiliert und mir einverleibt. Das gibt mir die Macht und Gewalt loszulassen, was und wie ich es will. Denn ich kann nur meine Eigenes aufgeben und nur zu meinem Eigenen hinzufügen, was mir beliebt. Niemandes Herr oder Knecht – das war gestern! Heute und jetzt bin ich ganz und gar ich selbst. Ich bin frei und gebunden. Ich bin Mensch und Unmensch. Ich bin Geist und bin Leib. Ich bin gedankenlos und habe Gedanken. Und ich selbst bin mehr als das alles. Ich bin nicht Du und Du bist nicht Ich. Und genau darum können wir uns beide begegnen. Ich selbst bin errichtet. Da ist keine Schockstarre vor der Welt und kein blinder Aktionismus. Es ist nicht die Ataraxie der Stoa und nicht das Nicht-Eingreifen des Dao. Ich bin es! Ich allein und einzig. Es ist nicht die Liebe und nicht der Hass. Weder das Gesetz noch die Gesetzlosigkeit. Ich bin es! Es dürstet mich nicht nach Mehr oder Weniger. Jedenfalls nicht Jetzt! Wo Alles war bin ich selbst. Ich bin.

 

Ein Gedanke zu „ICH SELBST“

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