Archiv der Kategorie: Gedanken

Prosa, Philosophie, Ethik und „Gedanken“ in Textform.

Sicherheit

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Sicherheit gibt es nur in Beziehung zu Begleitumständen. Losgelöst ist Sicherheit ein Begriff, der einen großen Spielraum für Auslegungen mit sich bringt. Wer oder was ist sicher vor wem oder was? Menschen suchen Zuflucht vor den sie verstörenden Umständen. Furcht, Angst, Hilflosigkeit bis zur Ohnmacht sind Empfindungen, die den Menschen veranlassen, Sicherheit zu suchen. Der (tatsächlich vorhandene oder vermutete) Einfluss der Mächte, die dem Menschen die Sicherheit zu entreissen drohen, soll eingedämmt oder kontrollierbar werden.

Die Abwendung oder Bekämpfung von möglichen Gefahren für die Sicherheit sind zwei erprobte Mittel, um zu reagieren. Eventuell kann sogar im Vorfeld Prävention betrieben werden, um erst gar keine Gefärdung aufkommen zu lassen. Und dennoch gibt es keine 100%ige Sicherheit. Ein Rest wird immer bleiben. Es geht in letzter Konsequenz genau darum, wie mit diesem Rest Unsicherheit umgegangen wird. Eigentlich spielt es hierbei gar keine Rolle, wie gross der Rest ist.

Wir gewinnen Sicherheit womöglich gerade dadurch, dass wir in der Verletzlichkeit, die durch die Unsicherheit entstehen mag, offen bleiben oder werden. Das Abenteuer findet in diesem Raum zwischen Lächeln, Weinen, Trauern und Jubeln statt. Dieser Raum ist der angestammte Platz des Menschen. Ihn zu bewohnen, in ihm zu tanzen, zu schreiten oder zu krabbeln ist die Zumutung, die menschliches Leben so einzigartig und wundervoll macht. 

Scheitern. Scham. Schuld.

Es gibt etwas in mir, das ich nicht akzeptiere.
Es hat die Chance, mir ganze Tage zu versauen.
Es ist mächtig, schnell und läßt sich kaum „zähmen“.
Und wenn ich ihm ausgeliefert werde, fühle ich mich hilflos und unsicher.

Es ist mächtiger, als mein Verstand, mein Abwägen und Bedenken.
Sobald ich wieder „bei mir“ bin, fühle ich mich schuldig und schäme mich.
Ich suche die Schuld für die „Entgleisung“ bei mir – aber ich finde keinen
Schuldigen. Ich klage mich an, dafür, schwach und verletzlich gewesen zu sein. Es ist wie ein Instinkt – tief in mir beheimatet und es hat mir in vielen Situationen sicher meine Integrität geschützt. Jetzt hindert es mich immer wieder mal daran, mich auf Neues einzulassen und Vertrauen zu entwickeln.

Ich nenne es – diesen mächtigen Persönlichkeitsanteil – auch gerne meinen  „Verteidiger“. Er springt in die Breche und zermalmt gnaden- und gedankenlos alles, wirklich Alles, wovon er glaubt, es könnte mich einschränken, beschränken, begrenzen. Er schreitet ein, wann immer irgendwer oder irgendwas seine FREIHEIT bedroht. Ob das auch MEINE Freiheit ist, danach fragt er nicht. Er verteidigt, er greift an, er stellt sich tot. Er ist flexibel, schnell und äusserst effektiv. Insofern macht er seinen Job recht gut. Und er bewahrt mich vor so manchen Grenzverletzungen, die ich oft erleben musste (körperlich, seelisch, emotional). Er drängt sinnhaft in mein Leben. Er spürt instinktiv Körperspannung, Tonhöhe, Bewegungen und agiert ohne Zögern. Ich kann mich voll auf ihn verlassen. Ihm habe ich zu verdanken, dass ich immer noch lebe (mit meinem Kopf, meinem Herz, meinen Händen).

Die Methoden, die mein Verteidiger wählt, sind weder fein, noch kultiviert. Sie sind einfach nur effektiv. Strikt zielorientiert und taktisch ausgereift. Die Methoden beschämen mich nicht, sie erzeugen kein Scheitern und keine Schuld – sie funktionieren auf tiefster Ebene meines Verhaltens. Allerdings – und das ist schamerzeugend: die Auswirkungen der angewendeten Methoden sind verheerend.

Sie sind für mich verheerend, weil der Verteidiger einen OVERRIDE sämtlicher anderer Ziele in mir durchführt. Wenn er erwacht, halten alle anderen die Klappe und halten die Füsse still. Sie wissen: Widerspruch wäre zwecklos. Und so sind die Ergebnisse seines „Werks“ eben fast immer zerstörerisch. Ich weiss nicht, wie viele Menschen in meiner Umgebung diesem Dämon schon begegnen konnten. Aber ich weiss, dass es welche gab und gibt, die mich dafür hassen. Die hochautomatischen Abläufe des Verteidigers waren in vielen Situationen hoch funktional und dienten dem Überleben meiner gesamten Persönlichkeit. Aber heute und jetzt gibt es Methoden, die meinen Zielen auf oberster Systemebene zuwiderlaufen. Sie haben aufgehört in meiner jetzigen Persönlichkeitskonfiguration funktional zu sein. Sie schützen mich nicht mehr, sie bringen mich und andere in arge Bedrängnis. Ich werde mich darauf fokussieren, mich mit meinem Verteidiger offensiv zu beschäftigen. Er hat weiterhin seine Existenzberechtigung und hat mir „wohl gedient“ – aber es ist Zeit für eine Neukalibrierung des „Angriffsmusters“. Damit kann er seinen Job weiter machen, aber er soll meinen anderen Anteilen nicht mehr in die „Quere“ kommen.

Ein wesentlicher Versuch, mich zu schützen, zu verteidigen, ist „Panzerung“ von innen nach aussen. Schilde, die er führt. Schwerter, die er zu gebrauchen weiss. Der Kern meines Verteidigers hat Mut und ist völlig loyal zu mir als Gesamtpersönlichkeit. Er beteuert – in seiner wortkargen Art – alles nur zu „meinem Besten“ zu tun und mir zu DIENEN. Es ist Zeit in einen intensiven Austausch mit meinem „Diener“ zu gehen und ihm seinen rechten Platz zuzuweisen in meinem System. Und es gibt etwas in mir, das das kann! Mein SELBST in allen Erfahrungen ist derjenige, der das vermag. Ihm vertraut der Verteidiger – denn er ist es ja, den er schützt. Mein SELBST ist gewachsen, es ist reicher und schillernder als je zuvor. Ich spüre, weiss und erlebe mein Selbst am Werk. Und der Erfolg meines Selbst ist mein Beweis.

Ich weiss genau, wie ich automatische unwillkürliche Prozesse – nichts anderes ist der „Verteidiger“, die unerwünscht sind für mein voll integriertes Selbst sind, wirksam zu modifizieren. Aber jetzt geht es ans „Eingemachte“ – der Verteidiger kommt NICHT aus den Strahlen meiner geliebten Sonne (meines Willens) und auch nicht aus den Tiefen meines Selbst (dem Mond). Er wirkt aus dem Schatten und er stösst mich mit bestimmten Methoden, Techniken und Haltungen zurück in den Schatten. Dorthin, wo ich mich gut auskenne. Viele Leute schrecken vor Ihren Schatten zurück – ich komme aus Ihnen. Aber die Verherrlichung des Schattens und das zynische Grinsen über sein Wirken und seine Kraft endet. Ich ende die negativen Auswirkungen des Schattens in mir und erlaube meinem Schatten, mir die Tiefe zu erhalten, die so starke Sehnsucht in mir bedeutet.

ANGRIFF – ohne Unterlass! Mit gleissendem Licht und tiefschwarzem Schatten in feiner Balance. Ich arbeite daran. Ich komme voran. Meine Kapuze verdeckt mein Antlitz. die Laterne in meiner linken Hand zeigt den Anderen den Weg. Ich gehe voran. Ich bin dort, wo ich hingehöre – eine volle NEUN. Ich bin allein. Da wo ich nun bin, ist kein Platz mehr für Götter. Ich schweige und schreite… ich bin auf dem Sprung … ich bin bereit.

Rückblick

Am 03.01.1986 – also an meinem 16ten Geburtstag erhielt ich das Büchlein zum Geschenk, das mich zeitlebens begleitet hat. Die Widmung enthielt ein Zitat Seneccas, in dem es darum ging, nicht nur „zu tun, was man liebt, sondern zu lieben, was man tut“. Passender haette die Widmung nicht sein können. Ich verschlang „meinen“ Zarathustra noch direkt nach dem Auspacken und trug feierlich der versammelten Familienrunde die ersten Worte vor. Ich war stolzer als je in meinem Leben.

Einige Jahre vorher haten meine Eltern – auf meinen dringenden Wunsch – mir zu meinem 12ten Geburtstag eine Sammlung germanischer Götter- und Heldensagen geschenkt. Wie konnte ich mit Kriemhild, Attila und Hagen eine phantastische Sicht entwicklen. Bereits damals ahnte ich die tiefe Verbindung zum Unsagbaren – dem der Sprache unzugänglichen Teil des Lebens !
In diesen frühen Knabenjahren las ich schnell, viel und intensiv. Kafkas gesammelte Werke, Hesse (bis auf das Glasperlenspiel wohl alles), Marc Aurels Selbstbetrachtungen, Das Kapital (nur die Stellen, in denen es explizit um FREIHEIT ging: es waren nicht viele!) und die Bibel erinnere ich.
Später kamen Camus, Sartre und mein bis heute geliebter E. M. Cioran dazu. In meinen 20ern habe ich die hinduistische und buddhistische Literatur in mich aufgesogen. Das Geheimnis der goldenen Blüte habe ich wohl schon mehr als zwanzig Jahre bei mir, Kapleau, Deshimaru und D. T. Suzuki aber auch Allan Watts, Mantak Chia ein Ausflug in die Zenpraxis nach Taisen Deshimaru, regelmaessige Tai Chi und taoistische Meditationen liessen mich ab dem dreissigsten Lebensjahr in mich wachsen. Heute – nach 43 Jahren – blicke ich aus Fernblick im Sonnenlicht der ägyptischen Sonne zurueck.
Ich meditiere nicht mehr, lese immer noch viel, schreibe seit 31 Jahren Lyrik und Prosa.
Ich schaue mich tief und hoch an, blicke in meine Abgründe und Kellergemächer, blinzle in die Strahlen meiner Sonne. Ich bin Beides – männlich und weiblich. Und mit dem gleichen Stolz in meiner Brust murmle ich : gate gate paragate parasamgate bodhi svaha – gegangen, gegangen, hindurchgegangen, ans andere ufer gelangt – xxx- heil!

geschrieben an meinem 43ten Geburtstag am Strand des roten Meeres in den frühesten Morgenstunden …

Winterberg

Ich sitze an einem Holztisch für locker 10 Menschen und schreibe auf, was mir einfällt. Vor 2 Tagen hatte ich meinen 39ten Geburtstag. Um mich herum eine tief verschneite Landschaft. Direkt vorm Haus eine Liftanlage für die Skifahrer. Ich sitze im Warmen. Ein Pott Kaffee neben mir . N*, S* und ihre Kinder sind schon draußen – Schlitten fahren. Pausbäckig gerötete Kindergesichter wenn sie zurückkommen werden. So wie gestern auch.

Ich hatte mir immer gewünscht in einer Schneehütte ganz allein die Zeit zwischen Weihnachten und dem sechsten Januar des folgenden Jahres verbringen zu können. Dort würde ich das alte Jahr zum Abschluss bringen und das neue Jahr gebührend beginnen. Diese Rauhnächte sind mir schon lange eine Zeit der Besinnung.

Nun bin ich mit meiner Partnerin J* und der Familie ihres Bruders S* hier. Die beiden Kleinen (J*: 3 Jahre alt, O*: 9 Jahre alt) können viel fragen und lachen. Das ist nicht ganz die Eremitage meiner Herzenswünsche. Aber wie alles im Leben, gibt es nicht nur das Schwarz-Weiß unbedingter sozusagen absoluter Situationen, sondern einen Bereich des Wünschenswerten, in dem es feine Abstufungen zwischen den Extrempolen an den äußeren Enden gibt. Ein imaginärer Schieberegler erlaubt es unserer Wahrnehmungsfähigkeit und Wirklichkeitsproduktion sich in diesem Bereich zu bewegen und uns selbst mit unserem Erleben hierin zu verorten.

So finde ich meine Orte der Stille und Kontemplation in den frühen Morgenstunden zwischen 05:30 Uhr und 07:00 Uhr bei langsamem Auftauchen der Helligkeit des Tages aus den Nebel verhangenen Nachtstunden. Ich stehe auf dem Balkon und starre in die Dämmerung. Die verschiedenen Schattierungen des Grau umfangen mich in einer kalten aber dennoch wohligen Umarmung.

Ich zähle meine Atemzüge bis zehn und murmle das „om-mani-padme-hum“-Mantra. Meine zusammengelegten Handflächen berühren meine Stirn, meinen Mund und mein Herz. Tränen laufen mir über die Backen, weil mich in diesem Moment eine Ahnung dessen, wer ich in Wirklichkeit bin oder zu sein wünsche, umfängt. Die Fähigkeit der Imagination eines Wunschbildes ermöglicht uns, dass wir uns diesem Bild annähern. Schritt für Schritt ganz ähnlich wie aus einem Block Stein der Steinmetz die Figur herausarbeitet. Die Eigen-Skulpturierung des Menschen macht ihn zu dem, der er seinem wahren Wesen nach ist – bzw. schon immer war.

Latent befindet sich dieses wahre Wesen innerhalb der erfahrbaren Person des Jetzt. Selbsterkenntnis meint im Kern die Erkenntnis genau dieses Wesens.

Die Selbsterkenntnis ist die hauptsächliche Handlung des Menschen, der sich innerhalb des Weltganzen und des Weltgeistes, des „logos“ verorten will. Ohne seinen eigenen, ja seinen ur-eigenen Platz in der Welt zu kennen, kann niemand davon ausgehen, in der Wirklichkeit wirksam Einfluss nehmen zu können.

Aber genau diese bewusste Manipulation des Wirklichen in Richtung des Wünschenswerten macht die Entwicklungs- und Entfaltungsmöglichkeit des Menschen aus, macht ihn erst zum Gestalter seines Bühnenbildes, zum Choreografen seiner Tänze, zum Regisseur seiner Filme und Stücke. Dies ist die Grundlage der Autorschaft, der Autorität des einzelnen Menschen gegenüber seiner Umwelt und der Natur – und nicht zuletzt – gegenüber sich selbst. Dies macht in der Gemeinschaft der Menschen die Kulturfähigkeit aus.

Ohne den Wunsch, „Veränderungen in Übereinstimmung mit seinem eigenen Willen zu bewirken“ (A.C.´s Definition von Magie), bleibt der Mensch Spielball der Interessen und Bedingungen einer als feindlich empfunden Umwelt oder gar einer Gegenwelt. Dies bleibt dem passiven „Opfer“ natürlich nicht verborgen. Daher versucht es sich zeit seines Lebens aus dieser Opferrolle zu befreien und gerät in ein scheinbar unauflösbares Dilemma: Im Versuch gegen die feindliche Umwelt sich durchzusetzen beginnt ein ewiger Kampf um Herrschaft über diese „naturgegebene“ Ordnung.

Der Revolutionär verortet in der Gesellschaftsordnung genau die Elemente der Natur, die er in seiner Menschheitsentwicklung immer zu bekämpfen gezwungen war. Damit ist der Revolutionär der gesellschaftliche Prototyp des aufbegehrenden, kämpfenden Menschen, der die Wirklichkeit nach seinem Willen zu verändern sucht. Aber im Gegensatz zu dem sich selbst erkennenden und verwirklichenden Menschen ist sein Kampf einer gegen Umstände und feindliche Mächte, die ohne sein Zutun die Herrschaft in der Gemeinschaft und Gesellschaft aufrechterhalten wollen. Der – ich nenne ihn einmal Selbstverwirklicher – will in erster Linie sich selbst erschaffen innerhalb einer sich dauernd ändernden Welt. Damit ist sein Kampf nicht in erster Linie gegen die Welt gerichtet, sondern findet in wechselseitiger Abhängigkeit von und in der Welt statt.

geschrieben in Winterberg am 05.01.2009