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Ethik und Religion

Mut, Kraft und Entschlossenheit

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Eine Gesellschaft besteht aus einzelnen Menschen, die miteinander sich austauschen, sich unterstützen oder auch sich gegenseitig bekämpfen und einander ausgrenzen. Gesellschaft ist nicht anonyme Masse, sondern Menschen bilden Gesellschaften.

Solange Menschen über andere Menschen in ihrem Alltag Herrschaft – also sanktionierte / sanktionierbare Gewalt – ausüben, ergeben sich die Notwendigkeiten, die bestehenden Gesetze durchzusetzen, Strafen anzuwenden, Drohungen aufrecht zu erhalten. Der damit etablierte Legalismus suggeriert, dass die Gesetze, die pauschal als legal eingestuft werden, eine in sich liegende Notwendigkeit, sie zu befolgen, in sich tragen. Was sollte auch ein Gesetz, eine Verordnung, ein Bussgeldkatalog, würde man sich nicht daran halten?

Die Exekution der Gesetze ist in einem Staat – dem Machtapparat einer organisierten Herrschaftsausübung – monopolisiert. Die Polizistinnen sind Teil dieser arbeitsteiligen Exekutive, die eine der Säulen der geteilten Gewalt ist (Jurisdiktion / Rechtsprechung und Legislative / Gesetzgebung wären zwei weitere). Der Begriff „Gewaltenteilung“ könnte treffender nicht sein. Mehrheitlich und massenhaft versteht sich das deutsche Volk als eine demokratisch verfasste Gesellschaft, ich teile Kultur, Sprache und Bräuche des Volks, dessen Teil ich bin.

Die meisten Gesetze dienen der Aufrechterhaltung und Stabilisierung bestehender – funktionierender – Machtverhältnisse. Das kann man gut finden – muss mensch aber nicht! Solange – ja solange – die Gesetze befolgt werden. Welche Gesetze sind unerträglich für mich? An welche will ich mich nicht halten – und wozu? Oder um an die Wurzel des Themas zu gehen: Brauchen Menschen Gesetze – und wenn ja: wie viele und wie kommen sie zu Stande? Brauchen Menschen Herrschaft und Gewalt zur Durchsetzung der Herrschaft – und für wen, wozu und warum (also mögliche Begründungszusammenhänge)?

Viele der Menschen, die ich mag und mit denen ich zu tun habe, kümmern sich darum, ihr eigenes Leben und das Leben ihrer Familien und FreundInnen so zu organisieren, dass sie materiell, emotional, geistig und für ihre Träume zufrieden und glücklich sein können. Die meisten brauchen hierfür weder Gesetze zu übertreten noch Gewalt anzuwenden. Für mich ist der Normalzustand meines Lebens, die bestehenden Gesetze – soweit sie mir bekannt sind – zu halten. Viele von ihnen sind im Kern getragen von ethischen Haltungen, die ich teile: Würde des Menschen, Recht auf Eigentum, Sozialstaatsprinzip um nur einige zu nennen.

Es macht mir gar nichts aus, mich an dieses Set von Gesetzen zu halten, weil ich mich sowieso so verhalten würde. Das ist aber natürlich ganz etwas anderes, als es den GesetzgeberInnen vorschwebt (zumindest verstehe ich das so). Denn die Nichteinhaltung von Gesetzen ist fast immer strafbewehrt und hängt gerade nicht von meiner eigenen persönlichen Zustimmung ab. Die Gesetze des Staates gibt es nur als Bündel im Ganzen – oder vielleicht auch gar nicht? Der Faschismus italienischer Prägung hat dieses Prinzip herrschender konzentrierter Machtausübung symbolisch in den „fasces“, den Bündeln von Macht dargestellt. Daher rührt auch unser Begriff Faschismus.

Faschismus bündelt Macht. In diesem simplen Satz lässt sich ein Teil des Phänomens Faschismus beschreiben. Staaten tendieren strukturell immer dazu, solche Bündelungen – manchmal zeitweise, lokal oder themenspezifisch – vorzunehmen. Dieser Aspekt des Faschismus ist der Idee einer Herrschaft von Menschen über Menschen strukturell inhärent. Oder einfacher: Selbst demokratisch verfasste Staaten zeigen immer wieder Tendenzen in Richtung des Faschismus. Und zwar nicht aus Bosheit, sondern aufgrund der Organisation der zugrundeliegenden Prämissen der Gesellschaft(en).

Wenn wir uns den Faschismus in Aktion vorstellen wollen, müssen wir nur unser eigenes Verhalten anschauen und beobachten. Wo und wie setzen wir unsere Macht gebündelt durch? Wann setzen wir Machtmittel ein? Wieviel Spass macht es uns, bestimmen zu können, wie der „Hase läuft“? Wann halten wir den Einsatz von (körperlicher) Gewalt für legitim? Diese Vorstellungen werden uns sehr wahrscheinlich nicht gefallen. Wer möchte schon in seinem Verhalten „faschistische Tendenzen“ erkennen – wenn er / sie gerade kein erklärter Faschist ist?

Es sind die Strukturen gesellschaftlichen Lebens, die so etwas wie Herrschaft und Gewalt ermöglichen. Nicht die Gesetze schaffen Herrschaft, sondern die Ideen dahinter, die Haltungen, die uns glauben machen, wir bräuchten Gesetze und Exekution der Gesetze. Wir fürchten uns vor der Freiheit, wie schon der bedenkenswerte Titel eines Buchs von Erich Fromm ist. Und Adorno stellte bereits fest: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“! Unser Volk hat gute Gründe so zu leben, wie es geschieht.

Wenn wir damit nicht einverstanden sein sollten, wir uns vielleicht eine herrschaftsfreie, gewaltlose Gesellschaft wünschen, müssen wir den Arsch hochkriegen, um etwas dafür zu tun. Wir werden so eine Gesellschaft nicht geschenkt bekommen. Dafür ist die „Furcht vor der Freiheit“ vermutlich noch zu gross und mächtig. Also bleibt uns vielleicht keine Wahl, als die von uns ersehnte Gesellschaft, eine befreite Gesellschaft und ein Volk der Freien eigenständig aufzubauen. Dabei werden wir immer wieder in Konflikt mit den Gesetzen des Staates kommen, je weiter wir gehen. Wir können Frieden, Freiheit, Herrschaftsfreiheit (also: Anarchie) und Gewaltlosigkeit meines Erachtens nur erreichen, indem wir bei jedem unserer Schritte die Ziele (das Wohin und Wozu) strukturell beachten: Also wird Frieden nicht mit friedlosen Mitteln erreichbar sein etc.

Im Konflikt mit dem Herrschaftsanspruch des Staates, in dem wir leben werden uns immer wieder auch PolizistInnen begegnen. Die Art des Umgangs mit Ihnen ist für mich – nach reiflicher Reflektion – ein sensibler Gradmesser für unsere eigene Integrität. Solange wir nicht begreifen, dass diese Menschen keine Feinde sind, sondern ihre Leben dafür einsetzen, wovon sie glauben, es sei ethisch und moralisch korrekt – solange wir also deren eigene Integrität – nicht wertschätzen, werden wir an der falschen Stelle kämpfen. Wir werden unsere Kraft in die falsche Richtung schicken. Und wer mir Gewalt und Herrschaft aufzwingen will, wird in mir einen erbitterten Widersacher finden. Aber ich weigere mich, die Methoden des Faschismus zu meinen zu machen. Ich weigere mich, einen Krieg zu führen, der nur wieder neue Herrschaft etabliert. Ich weigere mich, Gewalt als Mittel zur Durchsetzung von Macht zu akzeptieren.

Es geht! Wir können anders leben! Es liegt in jeder Frau und jedem Mann, in ihrer / seiner Einzigartigkeit, sich einzubringen. Es geht! Wir brauchen uns nicht davor zu fürchten, schwach, verletzbar oder klein zu wirken. Das ist die Garantie dafür, zu siegen. Siegen heisst: In Freiheit leben! Dazu brauchen wir Mut, Kraft und Entschlossenheit: genau die Werte, die wir alle teilen, wenn – ja wenn wir Kriegerinnen und Krieger sind. Feigheit ist keine Option. Und bevor wir feige sind, handeln wir lieber! Es gibt andere Wege – und jede und jeder von uns kann sie gehen! Wir werden reich beschenkt werden dafür – in diesem Leben!

Liebe, das ist: der Kuss, der in sich Ewigkeit birgt.

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Wir lachen, wir sind traurig. Wir entwickeln Mut, wir spüren Angst. Alle Gefühle und Emotionen sind zeitweilig, sie kommen und sie gehen. Manchmal wollen wir sie gerne, manchmal nicht, manchmal ist es uns egal, manchmal langweilen sie uns. Weil sie auftauchen und verschwinden und nicht für immer bleiben, können wir sie weder festhalten noch aufhalten. Sie sind unbeständig, wir alle wissen das aus unserer eigenen Erfahrung. Kein Gefühl bleibt für immer.

Wir können Kindheiten erleben, die uns vergiftet werden, Trauamata noch und nöcher erleben, schlecht behandelt werden oder uns insuffizient fühlen – das alles ist traurig und macht keinen Spass. KeineR von uns ist daran schuld, wir brauchen uns nicht zu schämen, dass Gewalt uns ihre Stempel aufgedrückt hat auf unsere Haut und in unsere Psyche. Wir brauchen uns oder andere auch nicht zu entschuldigen. Was geschehen ist, ist geschehen. Wir können es nicht rückgängig machen. Wir alle haben tiefe Verletzungen erlebt – die eine mehr, der andere weniger.

Eine Verunsicherung, eine tiefe Furcht davor, nicht zu genügen, nur „geliebt zu werden“ als Gegenleistung für irgend etwas Anderes hat unsere Fähigkeit, zu empfangen und zu nehmen ebenso vergiftet, wie unsere unbeschwerte Lust zu schenken und zu geben. Wir bedenken, was unser Handeln bedeuten könnte, wir wägen ab, ob und inwieweit wir unsere Sicherheit riskieren. Das Schöne – und das Fatale – ist: es gibt keine Sicherheit! Es hat sie nie gegeben. Genausowenig wie die Unsicherheit. Sie sind Folge dessen, was wir bedenken, wenn wir abwägen, hin- und herschwanken. Natürlich kennen wir die Gedanken, uns unsicher zu verstehen, ganz gut. Genau wie bei den Gefühlen, ist die Halbwertzeit von Gedanken verschwindend gering. Auch sie kommen und gehen.

Unser Körper ist geschlagen worden, als wir Kinder waren. Ich trage Narben meiner Jugend auf meinem Kopf, an meinen Beinen, meinen Füßen und meinen Armen. Diese Narben sind geblieben – der Schmerz ist vergangen! Meine Narben gemahnen mich immer wieder daran, dass ich Schmerzen gehabt habe. Dass mein Körper in Schmerz eingehüllt war – und manchmal immer noch schmerzt! Schmerz kann lange dauern oder wie ein Nadelstich einen einzigen Punkt am Körper betreffen. Er kann sich über ganze Unterarme hinziehen – aber er endet! Jeder Schmerz, den ich erlebt habe, endet. Vielleicht kommt eine Kopie von ihm wieder, aber es ist ein neues Phänomen. Unser Körper wandelt sich in jedem Moment. Er ist weder dauerhaft noch beständig – er ist ein grosser biochemischer Komplex mit feinsten Verästelungen ins Psychische und Geistige. Er ist untrennbar unser eigenes Werden. Sein und Vergehen.

Was ich gesehen habe, was ich gehört habe: Schreie in der Nacht, Schluchzen am Morgen, schreiende Menschen. Was ich gerochen habe und was ich gespürt habe: Schmerzende Glieder und Angstschweiss im Angesicht einer Übermacht von Gewalt. Ich habe den eisenhaltigen Geschmack von Blut in meinem Mund geschmeckt – mehr als einmal. Ich bin getaumelt unter Schlägen, die mich getroffen haben. Ich habe meine Besinnung verloren in Wäldern meiner Sehnsucht. Alle Wahrnehmungsinhalte – angereichert mit unseren Erfahrungen früherer Inhalte – sind nicht ewig: sie entstehen und vergehen.

Wir planen etwas, wir verfolgen Ziele und wollen sie erreichen. Und wir hören auch wieder damit auf, zu wollen. Manchmal ist es gut, manchmal ist es schlecht, manchmal egal und manchmal haben wir keine Ahnung, was da vorgeht. Wille entsteht – und vergeht. Einstellungen und Haltungen bauen sich langsam auf, verändern sich oder lösen sich auf. Was wir früher vertreten haben, lehnen wir jetzt vielleicht ab. Manchmal dauert es nur Sekunden, um unsere Meinung zu ändern. Wir klagen an oder  verteidigen, aber die Inhalte, um die es scheinbar geht, sind die Gleichen. Worauf wir uns einbilden, es „mache uns aus“ – unsere Persönlichkeit – ist ebensowenig festgefügt und felsgleich statisch. Wir hätten nie die Person werden können, die wir jetzt sind, wenn wir nicht anders gewesen wären. Wie wir uns nennen und uns bezeichnen, ändert sich. Unsere Identifikation mit irgendwelchen geistigen Konstrukten unterliegt einem Wechsel und Wandel. Was in unser Bewusstsein dringt, verschwindet auch wieder daraus. Ebenso mit Aufmerksamkeit und Achtsamkeit.

Unsere Gefühle und Emotionen, unsere Gedanken und unser Geist, unser Körper und unsere Seele, selbst unsere Wahrnehmungen, sie alle haben ein einziges Merkmal gemeinsam: Sie entstehen und vergehen, sie sind unbeständig. Was aber sind Phänomene, die unbeständig sind? Sie sind wirklich in einer Gegenwart und unwirklich in einer anderen Gegenwart. Unsere Haltungen und unser Wille unterliegen Wandlung und Wechsel – selbst unsere Persönlichkeit bleibt nicht, wie sie war – oder wie sie gerade ist.

Ich habe fünf Beispiele für Unbeständigkeit und Veränderung gegeben.

  • Körperlichkeitsgruppe (skt./p. rūpa)
  • Gefühlsgruppe (skt./p. vedanā)
  • Wahrnehmungsgruppe (skt. samjñā, p. saññā)
  • Geistesformationsgruppe (skt. samskāra, p. samkara auch: sankhāra)
  • Bewusstseinsgruppe (skt. vijñāna, p. viññāna)

Die Buddhisten nennen diese fünf Gruppen auch Skandhas, oder Daseinsgruppen. Sie sagen: „Alle fünf Skandhas sind von Anfang an leer.“ Damit ist gemeint, dass sie kein „Eigen-Sein“ besitzen. Sie existieren nicht aus sich selbst heraus. Sie entstehen unter Bedingungen und vergehen wieder. Ein Objekt, das „Eigen-Sein“ hätte, würde ohne jegliche Bedingungen und ohne jede Abhängigkeit zu anderen Objekten existieren. Diese Charakteristik kann in den fünf Skandhas nicht gefunden werden: Etwas, das kein „Eigen-Sein“ hat, hat kein eigentliches „Sein“, es ist „Werden“ und „Vergehen“.

Wir alle wissen aus unserer eigenen (leidvollen und schmerzhaften) Erfahrung, dass das so ist – und nicht anders! Und dennoch halten wir an unseren Gefühlen, Gedanken, unserem Körper, unseren Haltungen etc. fest und behandeln sie wie Objekte, die über „Eigen-Sein“ verfügen. Ja – wir „verleihen“ ihnen „Eigen-Sein“.  Weil wir Zorn, Furcht und Angst in uns tragen, sehnen wir uns nach Sicherheit und Orientierung. Das ist natürlich – aber die fortgesetzte Identifikation mit den Inhalten der fünf Skandhas schafft uns gerade keine Orientierung und keine Sicherheit. Jedenfalls keine dauerhafte (wenn es die denn geben würde – und wenn sie wünschenswert wäre!).

Liebe ist ein geistiges Konstrukt, eine Haltung dem Leben und dem Sterben gegenüber. Liebe versteht, dass alle Phänomene (nicht nur die fünf Skandhas) wesenhaft leer sind, also kein Eigen-Sein besitzen. Liebe wird deshalb alles zurückweisen, das unsere Anhaftung an die Inhalte der fünf Skandhas erleichtert. Liebe entsteht und vergeht – wir können sie nicht aufrechterhalten – weder mit Willen noch beim Sex! Wir können zurückkehren zur Liebe, eine neue Liebe sehen, schmecken, riechen, spüren, hören, begreifen. Und sie wird zerfallen zu Nichts! Wir können nicht ewig lieben. Aber wir können entscheiden, uns nicht mehr an der Liebe festzuhalten. Wir können das Konzept Liebe aufgeben – und dadurch immer wieder erneuern.

Siegreich werden wir, wenn wir der Liebe erlauben, grenzenlos und unbedingt zu werden. Dann entwickeln wir nach und nach Mitempfinden und Mitgefühl mit uns selbst. In dem Maße, in dem uns das mit uns selbst gelingt, schwillt unser Mitgefühl für die (tatsächlich ungetrennten) anderen Lebewesen an. Es entsteht ein Strom aus Liebe und Mitgefühl, der uns trägt – für eine Weile jedenfalls. Wir fallen zurück in die Schlachtfelder der Gewalt, des Hasses und des Zorns. Und kehren zurück in das Feld der Zugehörigkeit. Wir halten weder am Mitgefühl noch am Hass fest.

Die Befreiung menschlicher Existenz liegt in einer tiefen Akzeptanz lebendiger Unbeständigkeit, einer Liebe gegenüber sich selbst und dem existentiell Anderen. Denn wir alle sind Teil eines gewaltigen Stroms, der durch die Äonen fliesst. Daher können wir uns jetzt in diesem Moment entscheiden, zu lieben. Und Liebe, das ist: das Leben in allem Schmerz und aller Freude aus vollem Herzen zu umarmen und sich davon umarmen zu lassen. Liebe, das ist: der Kuss, der in sich Ewigkeit birgt.

 
MAKTUB – es gibt nichts mehr zu dieser Angelegenheit zu sagen oder zu schreiben.

In der Tiefe der Seele (Willigis Jäger)

Für Eckhart ist das Suchen nach Gott zwecklos. Der Wunsch, die Gottesgeburt zu erfahren, hindert den Menschen sogar daran, Gott näher zu kommen: “Je mehr man dich (Gott) sucht, um so weniger findet man dich. Du sollst ihn suchen so, dass du ihn nirgends findest. Suchst du ihn nicht, so findest du ihn“. Eckehart unterscheidet sich hier nicht von anderen Mystikern. So schreibt der Verfasser der “Wolke des Nichtwissens”, dass man seine Sehnsucht nach Gott vor Gott verbergen soll. Ähnliches sagt folgender Zentext: Joshu fragte: “Soll ich mich dem Weg zuwenden oder nicht?” Nansen sagte: „Wenn du dich ihm zuwendest, gehst du gegen ihn“. Joshu fragte: „Wenn ich mich dem Weg nicht zuwende, wie kann ich dann wissen, dass es der Weg ist?“ Nansen antwortete: „Der Weg gehört nicht zu Wissen oder Nicht- wissen.“ Eckehart fragt selber, ob der Mensch denn dann Gottes Willkür ausgeliefert ist. Nein, für Eckehart gibt es wie für jeden Zenmeister den Weg: „Suchst du ihn nicht, so findest du ihn“. Suchen liegt noch zu sehr auf der Ego-Ebene. Der Mensch will noch etwas. Das Ich ist noch zu sehr beteiligt. Nur wenn er vollkommen losgelassen hat, ist er bereit für die Gnade. Alles Üben ist ein Üben des Loslassens. Wird der Mensch wirklich gelassen und leer, muß Gott sich eingießen: “Es ist ein Augenblick: das Bereitsein und das Eingießen. Wenn die Natur ihr Höchstes erreicht, dann gibt Gott die Gnade; im gleichen Zeitpunkt, da der Geist bereit ist, geht Gott (in ihn) ein, ohne Verzug und ohne Zögern”. Bereitsein und Eingießen ereignen sich im gleichen Augenblick: „Deshalb muss Gott sich notwendig einem abgeschiedenen Herzen geben“. Wenn der Mensch sein Ich gelassen hat, erscheint das Göttliche in der Tiefe seiner Seele. Das Lassen oder, wie wir meistens sagen, das Loslassen hat nichts mit einem Willensakt zu tun. Willentlich können wir nicht lassen. Wir müssen gleichsam in uns selbst einkehren, bis auch unser Wille in der Abgeschiedenheit untergeht. Unser Wille muss uns auf den Weg setzen, uns motivieren, aber dann in der Gebetsübung untergehen.
Willigis Jäger in: Suche nach dem Sinn des Lebens. Bewusstseinswandel auf dem Weg nach innen. Via Nova-Verlag, Petersberg

Offene Weite – nichts von heilig (aus dem Shobogenzo)

Kaiser Bu von Ryô fragte den Großmeister Bodhidharma:
„Was ist der höchste Sinn der Heiligen Wirklichkeit?“
Bodhidharma sagte: „Offene Weite – nichts von heilig.“
Der Kaiser sagte: „Wer bist du, der du mir gegenüberstehst?“
Bodhidharma sagte: „Ich weiß es nicht.“
Der Kaiser war ihm nicht gewachsen.
Schließlich überquerte Bodhidharma den Fluss Yangtse und kam in das Königreich Gi.
Später fragte der Kaiser Shikô nach dessen Meinung.
Shikô sagte: „Weiß Eure Majestät, wer dieser Mann ist?“
Der Kaiser sagte: „Ich weiß es nicht.“
Shikô sagte: „Er ist der Mahasattva Avalokitesvara, der das Siegel des Buddha-Geistes übermittelt.“
Da reute es den Kaiser, und er wollte Bodhidharma durch einen Boten zurückholen.
Shikô sagte: „Eure Majestät möge nicht versuchen, ihn durch einen Boten zurückzuholen. Selbst wenn ihm alle Menschen im Lande nachliefen, würde er nicht umkehren.“

Niederschrift von der Smaragdenen Felswand Fall 1

SATYAGRAHA

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Wer als Satygraha – Kämpferin in einen Kampf eintreten möchte, soll seine Gelübde freimütig sprechen. Wer es nicht vermag, wird diesen Weg nicht gehen können (jedenfalls nicht in letzter Konsequenz). Ich weiss es noch nicht, ob jch es kann, aber ich spüre aufrichtige Wahrheit darin.

1. Befolge Ahisma im Gedanken und Sinn!
Du sollst deine gewaltlosen Handlungen aus einer gewaltlosen Gesinnung ent-springen lassen. Deshalb versuche, so zu leben, dass du lernst, keinen Hass gegen jemanden zu empfinden, sondern deinen Nächsten wie dich selbst zu lieben.

2. Identifiziere dich mit denen, für die du kämpfst!
Du sollst dich mit der Gruppe identifizieren, für die du kämpfst, damit du gefühlsmäßig und intellektuell die Umstände und Verhältnisse so zu erleben vermagst, wie sie das einfache Gruppenmitglied erlebt.

3. Gib dem Kampf einen positiven Inhalt!
Du sollst dich in deinem Kampf nie damit betrügen, die bestehenden Institutionen oder Gesichtspunkte niederzureißen, sondern immer versuchen, diesen Teil der Aktion mit konstruktiven Unternehmungen zu kombinieren.

4. Dehne nicht das Ziel des Kampfes aus!
Du sollst nicht die Zielsetzung der einzelnen Satyagraha-Aktion ausdehnen, un-abhängig davon, wie der Kampf und die äußeren Verhältnisse sich entwickeln.

5. Schenke deinem Gegner Vertrauen!
Du sollst immer an deinem Gegner so handeln, wie du an Mitgliedern deiner eigenen Gruppe gehandelt hättest, und wie du wünschst, dass andere an dir handeln sollen.

5a. Begegne dem Gegner persönlich!
Du sollst dein Zutrauen zum Gegner dadurch zum Ausdruck bringen, dass du willig bist, ihm persönlich zu begegnen oder ein persönliches Verhältnis zu ihm zu Stande zu bringen, ebenso aufrichtig, wie du es mit einem von deiner eigenen Gruppe tun würdest.

5b. Beurteile nicht andere härter als dich selbst!
Du sollst weder ethisch noch intellektuell dem Gegner einen niedrigeren Rang als dir selbst beimessen, sondern an ihm so handeln als wenn er wenigstens ebenso hohe ethische Motive und wenigstens ebenso intelligente Analysen der Lage hät-te wie du selbst. Und beurteile ihn mit Rücksicht auf alle mildernden Umstände, die die äußeren Ereignisse geben können.

6. Sei zum Kompromiss bereit!
Du sollst bereit sein, durch Verhandlungen mit dem Gegner Kompromisse zu schließen, wenn es zu einem Verhältnis zwischen euch führen soll, das einen besseren Ausgangspunkt für dauernde Zusammenarbeit gibt, und wenn du nicht durch den Kompromiss Normen der Ahimsalehre brichst.

7. Du sollst nicht töten!
Du sollst vermeiden, körperliche Gewalt gegen irgendein lebendes Wesen zu üben oder dies zu beabsichtigen, wenn es nicht zum Besten des Wesens dient, wenn es undenkbar ist, dass sich das lebende Wesen über seine Lage klar ist, und wenn es in einem gewaltlosen Sinne geschieht.

8. Zwinge den Gegner nicht – wandle seinen Sinn !
Du sollst in einer Konfliktsituation so handeln, dass du den Gegner nicht in eine Lage bringst, wo dein persönliches Furchtmotiv seinen Handlungen zu Grunde liegen wird, sondern versuche, auf ihn so einzuwirken, dass ein Verhalten der Satyagraha-Gruppe für ihn ein annehmbares Verhalten werden kann.

8a. Richte den Kampf gegen die Sache, nicht gegen die Person!
Du sollst, wenn es überhaupt möglich ist, vermeiden, den Gegner persönlich mit deinem Satyagraha-Kampf zu treffen, sondern den Kampf in einer solchen Weise gegen den Übelstand richten, den der Gegner dir verursacht hat, dass der Gegner ihn als einen Kampf gegen eine Sache und nicht gegen seine Person auffassen kann.

8b. Nütze nicht die Schwächen des Gegners aus!
Du sollst aus schwierigen Lagen des Gegners keine Vorteile ziehen, wenn die Lagen Ursachen haben, die außerhalb des Konfliktes liegen. Lasse den Gegner fühlen, dass der Druck, dem er sich ausgesetzt hat, nur eine Folge des Unrechts ist, das es deiner Gruppe antut.

8c. Provoziere den Gegner nicht!
Du sollst Handlungen vermeiden, die dadurch eine Ausdehnung des ursprünglichen Konfliktstoffes zur Folge haben, dass der Gegner in Situationen gebracht wird, in denen er voraussichtlich besonders herabwürdigende Handlungen begehen wird. Sondern du sollst so handeln, dass die Situation, in die du den Gegner bringst, direkte Folge der ursprünglichen Konfliktlage und der Ahimsa-Norm ist.

9. Wähle Mittel, die dem Ziel entsprechen!
Du sollst Mittel wählen, die logisch und sachlich mit deiner Konfliktsituation zu-sammenhängen und die dem Gegner so deutlich wie möglich das zeigen, was du als Konfliktstoff auffasst.

9a. Feilsche nicht!
Du sollst nicht bereit sein, dir ein Verhalten des Gegners dadurch auszuhandeln, dass du ihm ein Verhalten auf einem anderen Gebiet anbietest, sondern versuche zu bewirken, dass sowohl du selbst als auch der Gegner ein Verhalten um dessen Willen selbst vertritt.

9b. Sei nicht abhängig von einer Hilfe von außen!
Du sollst nur Satyagraha üben, um deiner eigenen Gruppe zu helfen, und von Personen oder Gruppen von außen keinen Rückhalt annehmen, die der Gegner nicht mit dem betreffenden Konflikt direkt in Verbindung sieht, und die nicht von dem Konflikt direkt betroffen sind.

10. Sei opferbereit!
Du sollst bereit sein, alle deine physischen und geistigen Kräfte einzusetzen im Kampf für die eine Sache, an die du glaubst, und um deinen Mitmenschen dienen zu können, wenn nötig mit deinem eigenen Leben als Einsatz. Du sollst es aber um der Sache und deiner Mitmenschen selbst Willen tun, nicht um des Opfers Willen.

11. Befolge Ahimsa im Reden und Schreiben!
Du sollst bestrebt sein, im Reden und Schreiben die Wahrheit zu sagen, die volle Wahrheit, und nichts anderes als die Wahrheit, und du sollst es in einer solchen Weise tun, dass es deutlich wird, dass du dich nur gegen die Gesichtspunkte und Handlungen des Gegners wendest, nicht gegen ihn selbst. Und so dass der Gegner deine Worte als Ausdruck eines Wunsches nach Zusammenarbeit, nicht nach Kampf auf längere Sicht empfindet.

11a. Lebe dich in die Gesichtspunkte des Gegners ein!
Begegne dem Gegner im Meinungsaustausch mit einem Maximum von Einfühlung in seine Lage, seine ausgesprochenen Meinungen, seine Entscheidungsgründe, und wähle – innerhalb der Grenzen der Billigkeit – immer die Interpretation, die der Darlegung des Gegners das größte Gewicht als Antwort auf deine eigene gibt.

11b. Verbirg deine Pläne nicht!
Du sollst ehrlich und offen handeln und deine Pläne dem Gegner darlegen, so dass er zu jeder Zeit wissen kann, was du zu tun beabsichtigst, und sich danach richten kann.

11c. Gestehe deine Fehler ein!
Du sollst immer bereit sein, die Fehler, die du begehst, einzugestehen, sowohl deiner Gruppe wie dem Gegner gegenüber, auch wenn ein solches Geständnis eine zeitweilige Schwächung der eigenen Position mit sich führt, vom Gesichtspunkt deiner eigenen Gesinnungsgenossen und des Gegners aus gesehen.

12. Entziehe dem Übeltäter das Handlungsobjekt!
Du sollst den Kampf gegen eine böse Handlung nicht direkt gegen den Täter richten, sondern versuchen, so zu handeln, dass du ihm durch dein Benehmen die Mittel und Gegenstände, die für die Handlung erforderlich sind, verweigerst, so dass die negativen Wirkungen der Handlungen verschwinden.

13. Mache keine Sabotage!
Du sollst dem Eigentum anderer keinen direkten, aktiven Schaden zufügen mit der Absicht, dem Gegner Schwierigkeiten zu bereiten oder auf ihn Druck auszuüben, sondern nur einen passiven Schaden, der eine Folge davon ist, dass du ihm eventuell Zusammenarbeit verweigerst.

14. Sei, wo immer möglich, loyal!
Du sollst ein loyaler, gesetzestreuer und pflichtbewusster Bürger der Gesellschaft sein, von der du Mitglied bist, solange sie von dir nicht verlangt, dass du gegen dein Gewissen handelst, und der Widerstand soll erst bei einem ernsten Konflikt geleistet werden, auch dann, wenn er zu einem Kampf gegen die Mehrheit führen sollte.

15. Wähle Gewalt vor Feigheit!
Du sollst immer bestrebt sein, Ahisma zu folgen in der Bedeutung 1–14, aber in einer Lage, wo du es nicht fertig bringst, ist ein gewaltsames Verhalten mit einem von Ahisma erfüllten Sinn einem nicht gewaltsamen, aber aus Feigheit entstandenen Verhalten vorzuziehen.

Nachtrag am 01. Juli 2013:

Meine Einschätzung hat sich geändert. Jetzt bin ich sicher, diesen Weg gehen zu wollen. Prüft die Bedingungen und entscheidet Euch. Wollt Ihr das ganze Leben, in grösserer Ganzheit, als ihr es Euch auf der Ebene, in der ihr seid, überhaupt vorstellen könnt? Jonas hat mir gesagt: Du kannst erst gewaltfrei sein, wenn Du bereit und fähig bist, zu verletzen. Wenn Du das aufgibst, schlüpfst Du durch die Klappe an der Decke der Ebene, in der Du bist. Ins nächste Level, das so ganz anders aussieht, als alle anderen zuvor. Weder die Erfahrungen der Alten, noch die moderne Unverbundenheit – sondern ein Feld dazwischen, zwischen Sonne und Mond, zwischen Licht und Schatten, zwischen Tag und Nacht: da bin ich. Ich warte nicht: auf Nichts und Niemand. Hey, wen sehe ich da durch die Klappe schlüpfen? Wer häutet sich gerade? Willkommen – willkommen im ganzen Leben.

Nachtrag am 07.08.2013:

Ich spüre gerade in mich hinein, welchen Weg ich von hier aus weiter einschlage. Sicher bin ich aber darin, dass ich jedesmal, wenn ich in der Zukunft Fleisch essen sollte, dies in hoher Bewusstheit und Achtsamkeit tun werde. Das ist das Mindeste, was die Tiere verdient haben, finde ich. Ich gestehe mir ein, dass ich Bedingungen setzen will und damit meine Rückhaltlosigkeit geschmälert wird. Das macht mich sehr nachdenklich. Wie bedingungslos ist meine Liebe? Wieviel Wert steckt in einer Liebe, die verschenkt wird? Aus moralischen Gründen auf das Fleischessen zu verzichten, erscheint mir nicht stimmig. Ich habe den Anspruch an mich, Herzensentscheidungen zu treffen. Und wenn mein Herz hadert, bin ich noch nicht bereit.

Ich bin gespannt, was geschehen wird. Wohin mich der Fluss des Lebens treibt. Ich gestehe mir zu, unsicher zu sein. Das auszuhalten und mich reflektierend damit zu beschäftigen, ist eine meiner Stärken. „There is a crack in every thing – that´s how the light gets in.“ L. Cohen – Hymn

http://www.youtube.com/watch?v=E7dLbbXTctU

Bodhisattvacharyavatara – Eintritt in den Weg des Erwachens (Shantideva) aus dem Berzin-Archiv

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Bodhisattvacharyavatara (III, 10-15):

„10) Um die Ziele aller begrenzten Wesen zu erfüllen,
Gebe ich, ohne ein Gefühl des Verlustes (zu empfinden),
Meinen Körper und ebenso alle Freuden
Wie auch all meine positiven Kräfte der drei Zeiten hin.

11) Alles hinzugeben (bringt) die Befreiung des Nirvana hervor.
Und mein Geist (ist darauf ausgerichtet), Nirvana zu verwirklichen,
Da das Hingeben aller Dinge (mit dem Tod) zusammenfällt,
Ist es am besten, den begrenzten Wesen (jetzt etwas) zu geben.

12) Nachdem ich meinen Körper all jenen überlassen habe,
die einen begrenzten Körper besitzen,
Um mit ihm zu tun, was sie gerne tun möchten,
Liegt es nun ganz bei ihnen, damit zu machen, was ihnen gefällt:
Ob sie ihn töten, missbrauchen, andauernd schlagen oder sonst was.

13) Lass sie mit meinem Körper spielen,
Mögen sie ihn der Lächerlichkeit preisgeben oder über ihn scherzen.
Ich habe ihnen meinen Körper zur Verfügung gestellt,
Warum ist er mir nun doch lieb und teuer?

14) Lass sie mit (meinem) Körper tun, was sie wollen,
Solange es ihnen selbst nicht schadet;
Möge alles, was auf mich ausgerichtet ist
Sich niemals als bedeutungslos erweisen.

15) Wenn in irgendjemandem, der sich auf mich konzentriert,
Ein ärgerlicher oder unfreundlicher Gedanke aufsteigt,
Dann möge sich das stets in eine Ursache wenden,
Um alle seine oder ihre Ziele zu erfüllen.“

Shantidevas „Eintritt in das Verhalten eines Bodhisattvas“ gehört zu den Werken, die ich regelmäßig lese. Immer wieder erfahre ich daraus Inspiration und Hinweise darauf, mein eigenes (begrenztes) Leben hinzugeben. Hingabe und aus der Überfülle zu geben besiegt die Dämonen des Zweifels und der Angst vor dem Tod.

Das Berzin-Archiv hat eine Übersetzung einiger Teile ins Netz gestellt. Diese Übersetzung möchte ich gerne teilen, damit ein Verstehen erleichtert wird. Eine Druckausgabe (anderer ÜbersetzerInnen) gibt es bspw. hier, hier (diese benutze ich!) oder hier.

Die Berzin-PDF-Version findet ihr hier.

Leid kann durch Berührung entstehen und vergehen (Sparsha).

Der Sanskrit-Begriff sparsha heisst so viel wie Kontakt oder Berührung. Die Sinnesorgane werden dabei nach buddhistischer Vorstellung von Wahrnemungsobjekten „berührt“. Die Sinnesorgane modulieren daraus aktiv unsere Vorstellung davon, was wir als sinnlich erfahrene Realität bzw. Wirklichkeit begreifen. Im westlichen Denken werden kognitive Konstruktionsverfahren des Geistes ebenfalls philosophisch oder ethisch bspw. im (radikalen) Konstruktivismus behandelt.

Im Buddhismus besitzt der „erste Kontakt“ mit den Wahrnehmungsobjekten eine herausragende Stellung. Ohne diese Berührung würden die darauf folgenden Konstruktions- und Bewertungsprozesse gar nicht erst ablaufen. Diese differenzierenden Wahrnemungsleistungen schaffen erst Gut/Schlecht – Unterscheidungen. Und diese Differenzierungen führen (letztendlich) zu Leid.

Allerdings ist ohne Berührung auch keine Entwicklung möglich, keine Veränderung eines Wahrnehmenden denkbar. Daher wird folgerichtig eine „Erste Person Perspektive“ im Buddhismus strukturell zurückgewiesen. Stattdessen wird Persönlichkeit als dynamische sich im Augenblick jeweils neu konstituierende Seins-Wesenheit begriffen. Leid entsteht durch das Festhalten an einer (ebenso flüchtigen wie nicht-eigenexistenziellen) Konfiguration.

Die Berührung ist ein notwendiges Trainingsfeld, um die (automatisch) ablaufenden leiderzeugenden Nachfolgeprozesse zu transformieren. Daher wird ein engagierter Buddhist sich der Berührung nicht verschliessen. Er wird stattdessen lernen, sich weiter und weiter den Berührungen durch die (immer weniger als gesondert betrachteten) Wahrnemungsobjekte zu öffnen.

In dieser Hinwendung zum Leben (mit Leid, Schmerz, Freude und Wohlbefinden) unterscheidet sich der engagierte Buddhist ganz wesentlich von eher asketischen oder nihilistischen Positionen. In gewisser Weise ist es auch gar keine Position im geistigen Sinn eines möglichen Diskurses. Es ist eher eine Haltung wohlwollender Offenheit dafür, berührt zu werden (und zu berühren). Leid kann durch Berührung enstehen und vergehen.

Wenn wir uns darin üben, unsere Berührungen auf eine Weise zu gestalten, dass sie leidtransformierend wirken, beginnen wir uns (gegenseitig) zu heilen. Isolation schafft nicht weniger Leid, sie unterstreicht nur die (fehlerhafte) Interpretation von Beständigkeit des Schmerzes. Kein Schmerz währt ewig, keine Freude dauert für immer. Wenn wir das begreifen, empfinden und verstehen, entsteht tiefe Dankbarkeit für die Gelegenheit, berührt zu werden und zu berühren. Dort ist unser Feld, in dem wir experimentieren, in dem wir uns selbst erkennen im Anderen und umgekehrt. Und es eröffnet eine Perspektive des „Nicht-Ich“, also die eigene Person nicht mehr als Zentrum von Bewertungs- und Wahrnehmungsprozessen zu begreifen. An die Stelle der egozentrierten (und damit erst leidvollen) Existenz tritt nach und nach in einem Wachstumsprozess (wie die ersten Sprossen einer Pflanze die Muttererde durchstossen!) eine Schau gemeinsamen Lebens.

Echte Zugehörigkeit entsteht in einem immer weiteren Verblassen anhaftenden Denkens, besitzergreifenden Empfindens etc. Zugehörigkeit, die aufhört, die Ergänzung eigener Unzulänglichkeiten (wenn es die denn geben würde!) in einer anderen Person zu suchen (oder noch schlimmer: zu finden!). Diese Projektion eigener Unbefriedigtheit in die Ressourcen anderer Menschen vergiftet unsere Beziehungen untereinander. Sie untergräbt unser Selbstvertrauen, unseren Mut, unser Engagement für uns selbst ein zu treten.

Wann immer ein Mensch in mein Leben tritt, ist es meine vordringlichste Aufgabe die Berührungen dieses Menschen anzunehmen und meine Berührung anzubieten. Und zwar nicht als isolierte Akte sondern ganzheitlich mit meiner ganzen Persönlichkeitskonfiguration in diesem Augenblick. Das ist intensiv und begründet ein aktives Leben –> durch Interaktion, die „hautnah“ ist!

Stille

20130224-194854.jpgstill
bin ich
geschlossen und geladen
gesichert und entschlossen
getragen und leichter
berührungslos
bleibe ich
ein stern
ein nichts
ein jemand
ein fremder
mir selbst
ein fremder
wende ich mich
mir zu
begegne mir
im schweigen
verstehe mich
tiefer und tiefer
schweige und schreibe
zu mir – ich bin
schmerzfrei offen
nichts blutet
nichts ist verletzt
keine worte treffen stille
– samtene stille –
ich bin bereit
erfüllt und leer
zugleich
niemand ist
schuld
nichts ist
geschehen
ich gleite
in der stille
die schmerzen
vergehen
welle für welle
tiefer und tiefer
in den schmerz
hinein
ich bin
still

HIGH TRUST

teamIm Zusammenhang mit „Vertrauen“ habe ich diesen kleinen Text gefunden:

„Für Männer sind demnach die symbolischen Beziehungen und Bindungen, die durch die Zugehörigkeit zur gleichen Gruppe entstehen, die Basis des Vertrauens in Fremde, kommentieren die Forscher. Frauen dagegen gründen ihre Entscheidung praktisch ausschließlich auf persönliche Bindungen, auch wenn diese eher lose erscheinen…. Aus diesem Grund vertrauen Männer im Allgemeinen mehr Menschen als Frauen, da sie nicht zu allen persönliche Beziehungen aufbauen müssen.“ Marilynn Brewer, William Maddux (Ohio-State-Universität, Columbo): Group Processes & Intergroup Relations, Bd. 8, Nr. 2, S. 159

http://www.wissenschaft.de/wissenschaft/news/255139.html

Mit meinen MitarbeiterInnen verbinde ich beide Aspekte (Gruppenzugehörigkeit und persönliche Bindung). Ohne Vertrauen in sie, könnte meine Vision einer kooperativen, auf der Autonomie der / des Einzelnen basierenden Arbeitsumgebung schwer realisiert werden.

I. Dabei mischen sich meine Erwartungen daran, was sie können (Kompetenz) und wie sie sich mit gutem Willen (Benevolenz) authentisch regelkonform einbringen (Integrität).
Zur Integrität habe ich ein schönes Zitat gefunden: „Real integrity is doing the right thing, knowing that nobody’s going to know whether you did
it or not.“ – Oprah Winfrey
Es gehört zu den gemeinsam getragenen Werten der Praxis, diese Vertrauensgrundlage zu pflegen und zu unterstützen. Dazu gehört auch, zu erkennen, wenn Defekte auftreten. Diese gilt es – beiderseits! – anzusprechen und zu beheben.
Das heisst: Angelegenheiten direkt und klar ansprechen!

II. Ohne diese Mechanismen gemeinsamer Weiterentwicklung wäre Vertrauen bloß eine Möglichkeit der der „Reduktion von interaktioneller Komplexität“ (Luhmann) bzw. eine Art des Umgangs mit „Unsicherheit“. Das wäre in meinen Augen defensiv und wenig die Eigenkräfte im Sinne eines „Empowerments“ stärkend. Dies korreliert für mich ganz deutlich mit dem gezeigten Respekt vor der Würde jedes Team-Mitglieds.
Das heisst: Respektvoll miteinander umgehen!

III. Dazu ist es meines Erachtens wichtig, transparent zu bleiben. Also die Angelegenheiten, die für den Praxisbetrieb von Belang sind, so zu kommunizieren, dass sie überprüfbar und veränderbar werden. Dazu folgendes Zitat: “Trust happens when leaders are transparent.“
– Jack Welch, Former CEO, G.E.
Das heisst: Transparenz schaffen!

IV. Bei allem Vertrauen gibt es einen „Pferdefuss“: Die Defektion – also der Bruch im Vertrauenskontinuum – muss für alle Seiten klar erkennbar – und im Zweifelsfall auch sanktionierbar werden. Und dabei erscheint mir die gegenseitige Sanktionierbarkeit der einzige gangbare Weg. Wenn ich als Chef in einer Situation etwas „verbocke“, dass zu einem Vertrauensverlust bei MitarbeiterInnen führt, soll das genauso ansprechbar und „heilbar“ sein wie umgekehrt. Ich dachte lange, es sei wichtig, dass ich als „Vertrauensgeber“ quasi einseitig aufgrund meiner eigenen Werte als „Beispiel voranginge“. Mittlerweile ist mir klar, dass auch meine MitarbeiterInnen MIR vertrauen. Dazu ist eine „fehlertolerante“ professionelle Grundlage hilfreich, die ein schnelles „Entschuldigen“ und eine „kontinuierliche Verbesserung der Arbeitsprozesse“ möglich werden. Dazu folgendes Zitat:
„What I call Level 5 leaders build enduring greatness through a paradoxical blend of personal humility and professional will.“
– Jim Collins
Das heisst: Fehlertolerante die Prozesse verbessern.

V. Loyalität zeige ich darin, dass ich wann immer ich von /über jemanden im Team spreche, der gerade nicht da ist, so tue, als sei er/sie anwesend. Man kann sich auf mich verlassen. Ich stelle mich vor und hinter meine Mitarbeiterinnen. Sie sind die wichtigste Ressource als Menschen in unseren Therapien. Führung, die illoyal wird, verliert meines Erachtens ihren Respekt. Das bedeutet zum Beispiel auch, nicht abfällig oder entwertend über die Fähigkeiten anderer Therapeuten zu sprechen.
Das heisst: Ich verhalte mich loyal im Team.

VI. Exzellente Ergebnisse sind die Folge vieler Faktoren. Die Performanz und das Engagement aller Teammitglieder gehört sicher dazu. Ergebnisorientierung ermöglicht quantitativen und qualitativen Vergleich und Verbesserung. Dazu ist es meines Erachtens notwendig, einerseits alle Grundlagen für persönliche Leistungsfähigkeit zu schaffen.
Das heisst: Exzellente Ergebnisse durch optimale persönliche Performanz.

VII. Andererseits ist es notwendig, „Bremsen“ der Entwicklung zu lösen. Vertrauen muss nicht verdient werden bei mir, sondern es wird bewiesen – und zwar durch persönlichen Erfolg. Deswegen ist die persönliche Entwicklung der Therapeutenpersönlichkeit ein unabdingbarer Faktor!
Dazu ist es notwenig, immer wieder dazuzulernen, sich gegenseitig rückzuversichern und gemeinsam auszuhandeln, was gebraucht wird, um besser zu werden.
Das heisst: Besser werden als lernende Organsiation.

VIII. Die Realität bringt gute und schlechte Situationen. Den Kopf in den Sand zu stecken und unangenehme Wahrheiten nicht auszusprechen, nur um der „Harmonie willen“ verbessert nicht die Vertrauensgrundlage. Sie unterminiert sie. Gute Nachrichten werden gerne geteilt. In einer Krise zeigt sich dann aber sehr schön, wie Vertrauen funktionieren kann. Wenn nämlich jedeR offen die von ihm/ihr wahrgenommene Wirklichkeit anspricht. Dazu ein schönes Zitat zu offenem Dialog etc.:
„We strive to tell everyone everything we can. We want a culture with open dialogue and straight answers. In terms of our work with employees, we have been direct with them even when they don’t like the answer. Our goal is not to please everyone but instead for them to trust that what we tell them is the truth. You can’t work the tough issues we face unless everyone, starting with the senior team, trusts one another.“
– Greg Brenneman, former CEO, Continental AIrlines
Das heisst: Sich gemeinsam der Realität stellen.

IX. Ich erwarte hohe Eigenständigkeit, Entscheidungsfreude und Autonomie meiner MitarbeiterInnen. Dazu ist es äusserst hilfreich, klar zu stellen, was genau ich erwarte und umgekehrt genau zu verstehen, was von mir erwartet wird.
Das heisst: Erwartungen klar formulieren.

X. Als Chef bekommst du keine „Feier deiner Selbstwichtigkeit“ – und wenn du das erstrebst, suche dir Menschen, die das mitmachen. Ich wollte mit niemandem gerne arbeiten, der Lobhudeleien und Freundlichkeiten verschenkt, um damit elementare Regeln der Verantwortlichkeit zu verdecken. Freiheit – so wie ich sie verstehe – bedeutet: Verantwortlich werden für die Räume, in denen ich frei sein will. Deswegen sehe ich meinen Job gerade darin, sozusagen das Beste aus jedem Teammitglied zum Vorschein zu bringen (bzw. ihm/ihr den Support zu geben, dass er/sie das selbst hinkriegt). Dazu noch ein Zitat:
„Remember, when you were made a leader, you weren’t given a crown, you were given a responsibility to bring out the best in others. For that, your people need to trust you.“
– Jack Welch, former CEO, General Electric
Das heisst: Verantwortung übernehmen.

XI. Wenn ich glaube, ich wüsste alles, falle ich früher oder später auf die Nase. Also wäre es eine gute Idee, besser zuzuhören. Und zwar nicht nur auf einer Sachebene sondern auf allen Ebenen, die im Gespräch (der Basis kooperativem Verhaltens) angesprochen werden. Dies ist auch ein Zeichen „emotionaler Bindungsfähigkeit“.
“We’ve all heard the criticism, ‘He talks too much.’ When was the last time you heard someone criticized for listening too much?“
– Norm Augustine, Former CEO, Lockheed Martin
Das heisst für mich: Höre absichtsvoll zu.

XII. Es ist ziemlich wichtig, zu seinem Wort zu stehen. Vertrauenswürdig werde ich als Leiter einer Organisation dann, wenn jedeR sich auf mein Wort verlassen kann – und dann auch entsprechende Taten folgen. “Trust doesn’t mean they tell you everything. It doesn’t mean they don’t posture. But it means if they say, ‘We will do this,’ they will do it. It is credibility. It is integrity.“
– Scott Smith, Publisher, Chicago Tribune
Das heisst: Steh zu Deinem Wort.

XIII. Vertrauen zu üben, bedeutet: Risiken eingehen!
Eines liegt darin, nicht mehr herrschen zu können. Nicht mehr der HERR / HERRIN im „eigenen Haus“ zu sein. Solange ich alle Maßstäbe und Regeln bestimme und gegbenenfalls sanktioniere, was MIR (nicht) gefällt, habe ich natürlich ein leichteres Leben. Natürlich deshalb, weil ich mich dann ganz wundervoll frei (und beliebig) fühlen darf. Wenn ich hingegen Vertrauen auf eine neue Grundlage bringe, indem ich das Gebiet des Vertrauens immer weiter ausweite, KANN ich nicht mehr selbstherrlich BESTIMMEN. Jedenfalls kann ich mir das authentisch nicht vorstellen! Wenn aber die Teilung gemeinsamer Normen Zeichen steigender Identifikation mit dem gemeinsamen Arbeitsumfeld sein soll, werde ich das über „Gutdünken nach Gutsherrenart“ vermutlich nicht erreichen. Diese Identifikation ermöglicht meines Erachtens erst eine vollständige Integration bei Abbau von Hierarchien zugunsten heterarischer Organisationsformen.

Ein zweites Risiko Vertrauen zu üben und zu KULTIVIEREN ist, dass ohne wirksame und klare Behebung von Vertrauensbrüchen keine sinnvolle realitätskonforme Entwicklung möglich ist. Auf gut Deutsch: Vertrauensselig dem Schiff beim Kentern zuzusehen ist für mich nun nicht gerade das Bild einer Führungspersönlichkeit, eines Käptn´s. Das Bild des Schiffs und eines Kapitäns etc. nutze ich oft, um mir immer wieder klar zu machen, dass der betriebliche und therapeutische Erfolg für MICH ganz unmittelbar an diese Kultur des Vertrauens geknüpft ist.

Ein drittes Risiko (oder eine Chance) einer Vertrauenskultur ist die damit einhergehende Verletzlichkeit der gesamten „Crew“. Wir erleben intensiver, wenn wir uns verletzt fühlen. Unser Handeln wird verbindlicher, überprüfbarer und vergleichbar. Stillstand in therapeutisch-fachlicher aber auch organisatorisch-betrieblicher Sicht ist ganz sicher der Tod jeglicher Kreativität. Ohne sich verletzlich (sprich: offen für Erfahrungen etc. ) zu fühlen, lasse ich neue Erfahrungen gar nicht „an mich heran“. Ohne diese Berührung ( die auch emotional ist) kann ich wie Georg Dehn mal gesagt hat, „keinen eigenen Standpunkt entwickeln“. In der Berührung riskiere ich aber auch, meinen eigenen Standpunkt zu verlieren. So funktioniert für mich Entwicklung. Nicht durch Mauern und hallsstarriges „Voran“ sondern – sozusagen: (nochmal) mit Gefühl.
Das heisst: Vertrauensräume kultivieren und erweitern.

Wikipedia führt dazu noch aus:

„Vertrauen ist der Wille, sich verletzlich zu zeigen“ (Bijsma & Costa, 2003; Mayer, Davis & Schoorman, 1995; Rousseau et al., 1998). Dieser einfache Satz umfasst mehrere Vertrauensdimensionen: 1. Vertrauen entsteht in Situationen, in denen der Vertrauende (der Vertrauensgeber) mehr verlieren als gewinnen kann – er riskiert einen Schaden bzw. eine Verletzung. 2. Vertrauen manifestiert sich in Handlungen, die die eigene Verletzlichkeit erhöhen. Man liefert sich dem Vertrauensnehmer aus und setzt zum Vertrauenssprung an. 3. Der Grund, warum man sich ausliefert, ist die positive Erwartung, dass der Vertrauensnehmer die Situation nicht zu seinen Gunsten ausnutzt.

Abschliessend noch zum sehr engen Verhältnis zwischen Scham, Verletzlichkeit und Vertrauen eine Pionierin der Schamresilienzforschung Brené Brown:

http://www.ted.com/talks/lang/de/brene_brown_on_vulnerability.html

Grundlage meiner Textbearbeitung war: http://www.coveylink.com/documents/13-Behaviors-Handout-CoveyLink.pdf

Always be True To Your Self

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Ich habe gute Gründe, warum ich mich so verhalte und handle und wie ich es mit mir und anderen Menschen halte. Viele dieser Gründe sind mir mittlerweile bewusst geworden. Einige bahnen sich ihren Weg in meinen Alltag aus den Tiefen meines eigenen persönlichen Unbewussten und dem unermesslichen Speicher des gemeinschaftlichen (kollektiven) Un(ter)bewussten.

Ich verkörpere Werte, Haltungen, Einstellungen lebendig und wirkmächtig. Ich hinterfrage und analysiere mein eigenes Handeln immer wieder in Hinblick darauf, ob ich mir noch „selber treu“ bin. Die Gedächtnisinhalte, die sich auf meine eigene Person beziehen nenne ich mein „Selbst“. Ich bemerke in meiner Eigenreflektion auch, dass mein Selbst (dem ich Treue „geschworen“ habe!) sich verändert, durch Wandlungen hindurchgeht. Erinnerungen verblassen, andere Erlebnisse bleiben im Gedächtnis. Der Aufmerksamkeitsfokus ändert sich von Zeit zu Zeit. Neue Wünsche entstehen, andere sind erfüllt (worden).

Ich beobachte bei meinen Freundinnen ebenfalls solche Änderungsprozesse. Ich habe den Eindruck, dass auf der Suche nach dem „Kern“ der Persönlichkeit wohl dauerhaft keine Schätze zu finden sein werden. Schlichtweg deshalb, weil es so etwas nicht zu geben scheint: einen zeitlich überdauernden Persönlichkeits- oder Wesenskern. Man nimmt alltagspsychologisch such selbst öfter mal als statisch und fest im Zeitablauf wahr. Und setzt einiges an Energie ein, um diesen festen Kern zu schützen, ihm gerecht zu werden, ihn auszuhalten etc.

Ich kann in mir solch einen Kern nicht finden – ich finde stattdessen ein Kaleidoskop vieler miteinander interagierender psychischer Subsysteme, die in einer dynamischen Lebendigkeit den jeweiligen Bezugsrahmen herstellen zwischen meinem „Selbst“, meinem „Ich“, der Intuition und der Eigenreflektion. Julius Kuhl hat in seiner PSI-Theorie geistreich und detailliert (wissenschaftlich) beschrieben, was ich (subjektiv) erlebe.

Treue zu meinem Selbst bedeutet metatheoretisch, nicht an den Inhalten meiner Gedächtnisinhalte festzuhalten (sie zu schützen, sie zu „beweisen“ oder sie zu rechtfertigen. Es bedeutet etwas Eigenwilligeres: Die Kunst, den Veränderungen im Selbst mit Freude und Zuversicht zu folgen. Ohne dabei inhaltlich sich zu beschränken, ohne sich zu etwas zu zwingen. Die grösste Kraft erlebe ich, wenn ich mir erlaube, meinem Selbs zu (ver)trauen.

Der Buddha meinte dazu: „Alle fünf Skhandas sind leer!“. Damit wollte er ausdrücken, dass sich unsere Persönlichkeit zusammensetzt aus aggregierten und zusammengesetzten Einzelteilen, wobei der jeweilige Inhalt zweitrangig bezüglich ihrer Struktur ist. Das ist mit der „Leerheit“ (sanskr. sunyata) gemeint. Und die jeweilige Struktur ist ebenfalls nur in ihrem Aspekt der Formgebung (sanskr. rupa) relevant. So oder so: weder Leere noch Form vermögen dauerhaft eine Antwort auf die Frage nach der eigenen Identität zu geben.

Ich habe Nagarjunas MMK sehr oft gelesen, ich habe das Sutra verstanden und mein Verständnis hat wesentlichen Anteil an meiner Verhaltenssteuerung. Einen mittleren Weg zwischen Ichverlöschung und Selbstaufgabe, rückhaltlosem Egoismus und unbegrenztem Mitgefühl gehen: das ist der Vorschlag des Buddhas, den ich angenommen habe, dem ich mich freiwillig verpflichtet fühle und der mein Leben mitgestaltet seit mehr als 25 Jahren. Und das Schöne darin ist für mich, dass ich mich weder als Sklave einer Religion fühle, noch alle Tugenden (Silas) immer (ein)halten muss, um vor mir selbst bestehen zu können. Meine Selbstachtung und mein Stolz auf mich ist über die Jahre erst behutsam wie ein Baum gewachsen. Aber dafür ist dieser Baum äusserst robust, knorrig und alles andere als gerade. Und das gefällt mir: was vielleicht die Hauptsache ist!