Winterberg

Ich sitze an einem Holztisch für locker 10 Menschen und schreibe auf, was mir einfällt. Vor 2 Tagen hatte ich meinen 39ten Geburtstag. Um mich herum eine tief verschneite Landschaft. Direkt vorm Haus eine Liftanlage für die Skifahrer. Ich sitze im Warmen. Ein Pott Kaffee neben mir . N*, S* und ihre Kinder sind schon draußen – Schlitten fahren. Pausbäckig gerötete Kindergesichter wenn sie zurückkommen werden. So wie gestern auch.

Ich hatte mir immer gewünscht in einer Schneehütte ganz allein die Zeit zwischen Weihnachten und dem sechsten Januar des folgenden Jahres verbringen zu können. Dort würde ich das alte Jahr zum Abschluss bringen und das neue Jahr gebührend beginnen. Diese Rauhnächte sind mir schon lange eine Zeit der Besinnung.

Nun bin ich mit meiner Partnerin J* und der Familie ihres Bruders S* hier. Die beiden Kleinen (J*: 3 Jahre alt, O*: 9 Jahre alt) können viel fragen und lachen. Das ist nicht ganz die Eremitage meiner Herzenswünsche. Aber wie alles im Leben, gibt es nicht nur das Schwarz-Weiß unbedingter sozusagen absoluter Situationen, sondern einen Bereich des Wünschenswerten, in dem es feine Abstufungen zwischen den Extrempolen an den äußeren Enden gibt. Ein imaginärer Schieberegler erlaubt es unserer Wahrnehmungsfähigkeit und Wirklichkeitsproduktion sich in diesem Bereich zu bewegen und uns selbst mit unserem Erleben hierin zu verorten.

So finde ich meine Orte der Stille und Kontemplation in den frühen Morgenstunden zwischen 05:30 Uhr und 07:00 Uhr bei langsamem Auftauchen der Helligkeit des Tages aus den Nebel verhangenen Nachtstunden. Ich stehe auf dem Balkon und starre in die Dämmerung. Die verschiedenen Schattierungen des Grau umfangen mich in einer kalten aber dennoch wohligen Umarmung.

Ich zähle meine Atemzüge bis zehn und murmle das „om-mani-padme-hum“-Mantra. Meine zusammengelegten Handflächen berühren meine Stirn, meinen Mund und mein Herz. Tränen laufen mir über die Backen, weil mich in diesem Moment eine Ahnung dessen, wer ich in Wirklichkeit bin oder zu sein wünsche, umfängt. Die Fähigkeit der Imagination eines Wunschbildes ermöglicht uns, dass wir uns diesem Bild annähern. Schritt für Schritt ganz ähnlich wie aus einem Block Stein der Steinmetz die Figur herausarbeitet. Die Eigen-Skulpturierung des Menschen macht ihn zu dem, der er seinem wahren Wesen nach ist – bzw. schon immer war.

Latent befindet sich dieses wahre Wesen innerhalb der erfahrbaren Person des Jetzt. Selbsterkenntnis meint im Kern die Erkenntnis genau dieses Wesens.

Die Selbsterkenntnis ist die hauptsächliche Handlung des Menschen, der sich innerhalb des Weltganzen und des Weltgeistes, des „logos“ verorten will. Ohne seinen eigenen, ja seinen ur-eigenen Platz in der Welt zu kennen, kann niemand davon ausgehen, in der Wirklichkeit wirksam Einfluss nehmen zu können.

Aber genau diese bewusste Manipulation des Wirklichen in Richtung des Wünschenswerten macht die Entwicklungs- und Entfaltungsmöglichkeit des Menschen aus, macht ihn erst zum Gestalter seines Bühnenbildes, zum Choreografen seiner Tänze, zum Regisseur seiner Filme und Stücke. Dies ist die Grundlage der Autorschaft, der Autorität des einzelnen Menschen gegenüber seiner Umwelt und der Natur – und nicht zuletzt – gegenüber sich selbst. Dies macht in der Gemeinschaft der Menschen die Kulturfähigkeit aus.

Ohne den Wunsch, „Veränderungen in Übereinstimmung mit seinem eigenen Willen zu bewirken“ (A.C.´s Definition von Magie), bleibt der Mensch Spielball der Interessen und Bedingungen einer als feindlich empfunden Umwelt oder gar einer Gegenwelt. Dies bleibt dem passiven „Opfer“ natürlich nicht verborgen. Daher versucht es sich zeit seines Lebens aus dieser Opferrolle zu befreien und gerät in ein scheinbar unauflösbares Dilemma: Im Versuch gegen die feindliche Umwelt sich durchzusetzen beginnt ein ewiger Kampf um Herrschaft über diese „naturgegebene“ Ordnung.

Der Revolutionär verortet in der Gesellschaftsordnung genau die Elemente der Natur, die er in seiner Menschheitsentwicklung immer zu bekämpfen gezwungen war. Damit ist der Revolutionär der gesellschaftliche Prototyp des aufbegehrenden, kämpfenden Menschen, der die Wirklichkeit nach seinem Willen zu verändern sucht. Aber im Gegensatz zu dem sich selbst erkennenden und verwirklichenden Menschen ist sein Kampf einer gegen Umstände und feindliche Mächte, die ohne sein Zutun die Herrschaft in der Gemeinschaft und Gesellschaft aufrechterhalten wollen. Der – ich nenne ihn einmal Selbstverwirklicher – will in erster Linie sich selbst erschaffen innerhalb einer sich dauernd ändernden Welt. Damit ist sein Kampf nicht in erster Linie gegen die Welt gerichtet, sondern findet in wechselseitiger Abhängigkeit von und in der Welt statt.

geschrieben in Winterberg am 05.01.2009

Liberty, Love, Life, Light