Kapitel 7: Tu was Du willst – oder: Mach was Dir gefällt?

Pipi Langstrumpf
Pipi Langstrumpf

Im vorigen Kapitel haben wir uns die Bedingungen der Freiheit angeschaut. Nun wollen wir persönlichkeitspychologisch diese Bedingungen berücksichtigen. „Tu was Du willst!“ – ein Satz mit deutlichem Aufforderungscharakter. Ich forme den Satz einmal um, so dass die drei Kriterien für ein „handlungswirksames Ziel“ (Storch & Krause, 2010) für mich erfüllt werden (Tabelle 1). Offenkundig ist das nicht das Gleiche, wie im bekannten Lied „Mach, was Dir gefällt“ – oder doch?

 

Tabelle 1: Handlungswirksame Ziele nach Storch und Krause (2010)

Annäherungsziel – kein Vermeidungsziel

OK

Zielerreichung 100% unter eigener Kontrolle

Ich tu was ich will!

Zielformulierung verbunden mit positivem Affekt

OK

 

In dieser sprachlichen Form handelt es sich bezüglich des Zieltypus um ein „Haltungsziel“ oder „Mottoziel“ wie es im von Storch und Krause (2010) entwickelten Zürcher Ressourcen Modell (ZRM) verwendet wird. Ein solches Ziel befindet sich im psychischen System eines Menschen auf oberster Systemebene – ein „Be-Goal“ in Anlehnung an die Kontrolltheorie (Powers, 1973) und die Zielhierarchie (Carver & Scheier, 1998). Dieser Zieltypus determiniert die darunter liegenden Ebenen der Zielhierarchie (Ergebnis, Verhalten, Taktik), die auch als „Do-Goals“ zusammengefasst werden können. Diese Determination muss uns nicht bewusst sein, ist allerdings neurobiologisch gut abgesichert (Grawe, 2004, S. 110). Be-Goals generieren laufend Ziele auf Ergebnisebene, die wiederum mannigfaltiges Verhalten und entsprechende Taktiken erzeugen. Zur Illustration wären auf Ergebnisebene bspw. „Ich erlebe jeden Tag mindestens einmal, dass ich …<Ergebnis xyz> erreicht habe durch mein eigenes Handeln“ oder auf Verhaltensebene „Ich verhalte mich so, dass ich mein Ergebnisziel erreiche <Verhalten xyz>“ und auf Taktikebene „Wenn ich spüre, dass ich von meinem Verhalten abweiche, dann mache ich… <Aktion xyz>“. Ohne dass wir diese hierarchische Zielhierarchie bewusst planen, läuft sie in uns Menschen die ganze Zeit in dieser Art ab. Das erklärt sich dadurch, dass auf oberster Systemebene bereits Haltungen fest etabliert sind.

Die spannende Frage ist: „Sind es unsere eigenen Haltungen?“ oder anders formuliert: „Sind unsere Be-Goals mit unserem Selbst kongruent?“. Deshalb können wir mit Techniken und Methoden des Selbstmanagements uns selbst regulieren, indem wir zunächst selbstkongruente Haltungsziele entwickeln und uns dann darum kümmern, dass sie Wirklichkeit werden können. All das hat mit Esoterik, Religion oder Hokuspokus herzlich wenig zu tun. Es handelt sich um angewandte Psychologie. Das Problem, mit dem wir uns konfrontiert sehen, bezieht sich direkt darauf, ob und wie gut es uns gelingt, uns selbst zu spüren und zu verstehen (Selbstzugang). Unsere Absichten, unser tatsächliches Tun und das Erkennen von Abweichungen im erwünschten Muster sind andere Bereiche, die dabei eine Rolle spielen.

Um dies besser einordnen und verstehen zu können, ist ein persönlichkeitspsychologischer Rahmen hilfreich: die Theorie der Persönlichkeit-System-Interaktionen (PSI). Persönlichkeit zu definieren als „das für ein Individuum charakteristische Muster des Denkens, Fühlens und Handelns“ (Myers, 2008, S. 587) kann als Ausgangspunkt für viele verschiedene Ansätze (psychoanalytisch, humanistisch, sozial-kognitiv, Trait- Ansatz) zur Persönlichkeitstheorie verstanden werden. Für unser Thema relevant sind alle drei Aspekte. Die PSI (Kuhl, 2010) zeichnet sich durch die Berücksichtigung von Interaktionen zwischen vier Makrosystemen innerhalb der Persönlichkeit eines Menschen aus (Abb. 1). Dies eröffnet die Beschreibung von Persönlichkeitsakzentuierung bis hin zur Störung als aktuelles Ergebnis interaktioneller Prozesse unter Berücksichtigung der (einseitigen) Bevorzugung einzelner (oder mehrerer) Systeme zum Beispiel im STAR-Modell (Kuhl, 2000b, 2010). Erstreaktionen sind in der PSI die Verhaltensweisen, die unmittelbar und schnell auf erlebte Situations-Reiz-Konstellationen erfolgen (Kuhl, 2000a). Zweitreaktionen sind veränderbar und lernbar und ermöglichen eine „Überformung“ der weitgehend überdauernden stabilen Erstreaktionen (Kuhl, 2000a). Die Faktoren Selbstwirksamkeitserwartung und die Bildung selbstkongruenter Ziele werden innerhalb der PSI thematisiert. Die sich aus der PSI ergebenden klassifikatorischen Begriffe Handlungs- und Lageorientierung eröffnen ein Verständnis dafür, warum Menschen manchmal wie gelähmt unfähig sind, zu handeln (Lageorientierung) oder vor lauter Tun nicht so genau ihren langfristigen Absichten folgen (Handlungsorientierung).

AbbPSI

Abbildung 1: Makrosysteme nach Kuhl (2010)

Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf (Kuhl, 2010) und fassen diese zusammen. Dies soll ein systematisches Verstehen des Denkens (IG), Intuierens bzw. Handelns (IVS), Fühlens (EG) und Empfindens (OES) erleichtern (Heckhausen & Heckhausen, 2010, S. 458). Damit werden die oben genannten wesentlichen Aspekte einer Persönlichkeit hinreichend theoretisch abgedeckt. Das OES als Möglichkeit, Inkongruenzen zu erkennen, ermöglicht innerhalb eines Soll-Ist-Wert-Vergleichs das Erkennen eines Mangels. Und diese Feststellung eines Mangels ist grundlegend für Bedürfnisse. Im Objekterkennungssystem können wir eine Handlungsalternative bearbeiten. Im Intentionsgedächtnis maximal zwei. Alles was über drei Items geht, braucht unbewusste Bearbeitung des ausgedehnten Extensionsgedächtnisses und des Selbst.

Komplizierte Fragestellungen können schnell durch unsere unbewusste parallele Verarbeitung (EG) beantwortet werden (Kuhl, 2010). Wenn diese mit unseren bewussten Absichten (IG) abgeglichen werden (Kuhl, 2010), können wird durch eigene Erzeugung positiven Affekts (oder Ermutigung anderer) ins Handeln (IVS) kommen (Kuhl, 2010, S. 83–92). Und diese einzelne Handlung setzt den Punkt, aus dem eine erneute bewusste absichtliche Bewertung (OES) erfolgen kann (Kuhl, 2010, S. 93– 101). Die PSI ermöglicht uns eine Deutung und ein Verständnis der inneren Prozesse der (eigenen) Persönlichkeit.

Die erste Modulationsannahme (M1: Willensbahnung) assoziiert die selbstregulatorische Kraft, positiven Affekt (wieder)herzustellen mit der Umsetzung zielrealisierenden Verhaltens. Nicht nur konkretes zielrealisierendes Handeln löst positiven Affekt aus, sondern positiver Affekt wirkt günstig auf die Umsetzung von Handlungen aus dem IG in die IVS. Die Forderung nach Aufbau positiven Affekts zur neurobiologischen Vorbahnung (Grawe, 2004) verweist auf den gleichen Umstand des dopaminergen Systems.

Die zweite Modulationsannahme (M2: Selbstwachstum) besagt, dass durch die Herabregulierung negativen Affekts (A-) eine Integration der gemachten Erfahrungen im Sinne von Speicherung im Extensionsgedächtnis (und auf die eigene Person bezogen: ins Selbst) erfolgt. Ein zu langes Verweilen im Erkennen von Unzulänglichkeiten und Fehlern (OES) bspw. nach dem Erleben negativen Affekts ermöglicht keine Herabregulierung des damit verbundenen negativen Affekts und behindert damit Zuversicht und Selbstwirksamkeitserwartung.

Kehren wir zum Ausgangspunkt unseres Ausflugs in die Persönlichkeitspychologie zurück. „Ich tu was ich will!“ ist ein Haltungsziel, das meine Absicht (IG) bezeichnet, etwas (nämlich: was ich will) in Tun (IVS) umzusetzen, nachdem ich bei der Formulierung darauf geachtet habe, dass diese selbstkongruent (EG) ist. Sollte mir etwas „dazwischenkommen“ nutze ich das OES, um den Fehler zu erkennen.

Nun könnte man ja einwenden: „Das Ziel ist viel zu unkonkret und schwammig“. Ja – und: Nein! Haltungsziele können gar nicht spezifisch sein, dies ist der Ergebnisebene vorbehalten, in der bspw. Leistungsziele (S.M.A.R.T.) formuliert werden. Und schwammig mag es für jeden anderen sein, für MICH nicht, ich spüre deutlichen positiven Affekt bei jedem einzelnen Wort dieses Mottos. So mag es übrigens auch dem ein oder anderen Menschen gegangen sein, dem dieser Satz begegnet ist. Und genau darin liegt auch die „Gefahr“ oder Brisanz dieses Satzes. Er ist zunächst einmal historisch die Referenz auf die Ideen eines Anderen. Ganz entscheidend ist es also, jede Selbstinfiltration tunlichst zu vermeiden. Und dies wird am Besten dadurch erreicht, dass VORHER die eigenen Bedürfnisse, die nicht bewusst sind, erkundet werden. Dies kann bspw. durch projektive Verfahren (Bilderwahl) erreicht werden. Aus den Assoziationen aus dem Unbewussten zu dem (intuitiv nach positivem Affekt EG –> IVS) ausgewählten Bild wird dann ein Mottosatz „gebaut“. Dann erst wird dieses Haltungsziel weiter „angereichert“: durch bewusste Erinnerungshilfen, die als Zielauslöser fungieren (Gegenstände, Farben, Gerüche etc.) und unbewusst wirkende Primes, die die ganze Zeit das neu gebildete neuronale Netz (Haltungsziel) stärken und unterstützen. Dieser „Ressourcenpool“ (Storch & Krause, 2010) dient der Multicodierung. Durch die verschiedenen Codes kommt es zu einer schrittweisen Automatisierung entlang der Zielhierarchie hin zum zielrealisierenden Verhalten. Als mobile Erinnerungshilfe kann eine „Verkörperung“ (Embodiment) hinzukommen. Um den Transfer in den Alltag zu sichern, können dann entlang von Situationstypen (A, B, C) weitere Selbstregulationsmaßnahmen geplant werden.

Ich habe sachlich und wissenschaftlich begründbar über Selbstmanagement (Kanfer et al., 2011), ZRM (Storch & Krause, 2011) und PSI (Kuhl, 2010) geschrieben. Wenn man diesen Weg einschlägt, dann ist man bereits ein „Star“ seines Lebens. In dieser Helligkeit des eigenen Selbst – und den unweigerlichen Schatten – bewegen wir uns.

Es könnte alles so schön sein, wenn es da nicht noch ein paar „Fallstricke“ geben würde. Diese werden intensiv besprochen bei dem Thema Willensfreiheit im nächsten Kapitel.

Literaturverzeichnis:

Carver, C. S. & Scheier, M. (1998). On the self-regulation of behavior. Cambridge, UK ;, New York, NY, USA: Cambridge University Press.

Fuhr, F. (2012). MOVER – Modell zur Motivation und Volition für effiziente therapeutische Interventionen unter Ressourcenperspektive. Mannheim. BoD Verlag GmbH

Grawe, K. (2004). Neuropsychotherapie. Göttingen: Hogrefe.

Heckhausen, J. & Heckhausen, H. (Hrsg.). (2010). Motivation und Handeln (4. Aufl.). Berlin, Heidelberg: Springer.

Kanfer, F. H., Reinecker, H. & Schmelzer, D. (2011). Selbstmanagement-Therapie: Ein Lehrbuch für die klinische Praxis (5. Aufl.). Berlin: Springer.

Kuhl, J. (2000a). A functional-design approach to motivation and volition: The dynamics of personality systems interactions. In M. Boekaerts, M. Zeidner & P. R. Pintrich (Hrsg.), Handbook of self-regulation (2. Aufl., S. 111–169). San Diego, Calif.; London: Academic

Kuhl, J. (2000b). A theory of self-development: Affective fixation and the STAR Model of personality disorders and related styles. In J. Heckhausen (Hrsg.), Motivational psychology of human development. Developing motivation andmotivating development (S. 187–211). Amsterdam ; Oxford: Elsevier.

Kuhl, J. (2010). Lehrbuch der Persönlichkeitspsychologie: Motivation, Emotion und Selbststeuerung. Göttingen ;, Bern, Wien, Paris, Oxford, Prag, Toronto, Cambridge, Mass, Amsterdam, Kopenhagen, Stockholm: Hogrefe.

Myers, D. G. (2008). Psychologie (Springer-Lehrbuch, 2. Aufl.). Heidelberg: Springer.

Powers, W. T. (1973). Behavior: the control of perception. Chicago: Aldine Pub. Co.

Storch, M. & Krause, F. (2010). Selbstmanagement – ressourcenorientiert: Grundlagen und Trainingsmanual für die Arbeit mit dem Zürcher Ressourcen Modell, ZRM (Psychologie Praxis, 4. Aufl.). Bern: Huber.

 

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