Autonomie und geistige Behinderung

Lieber lebendig als normal

„Die eigentliche Frage ist jedoch nicht nach der richtigen Definition. Entscheidend ist vielmehr die Erkenntnis, ob und in welchem Maße wir wirklich und konkret frei sind.“ (Erich Fromm 1968b, GA Bd. IX, hier S. 46)

Der Begriff Autonomie ist griechisch. Er besteht aus den Bestandteilen „autos“ = Selbst und „nomos“ = Gesetz , daraus ergibt sich die wörtliche Übersetzung „Selbstgesetz“.  Diese Setzung wird fast immer als ein kognitiver Akt der Bestimmung verstanden. Wer sich selbst sein eigenes Gesetz gibt, ist darin ein „Autonomer“. Sein Selbst bestimmt seine Werte, seine Haltung.

Genau damit haben geistig behinderte KlientInnen Schwierigkeiten. Diese müssen meines Erachtens auf oberster Systemebene des Therapeuten beachtet werden. Dies kann im konkreten (therapeutischen) Handeln nur gehen, wenn ein praktikables Konzept oder mindestens eien Strukturierung des Feldes vorliegen. Handhabbare wissenschaftliche Publikationen gibt es bei Hahn, 1994 und bspw.  in der Dissertation von Weingärtner. Er skizziert in seiner „Basalen Selbstbestimmung“ ein alltagsorientiertes Konzept für Menschen mit schwerer geistiger Behinderung aus drei wesentlichen Elementen:

1. Selbstbestimmung als ‚Selbstentscheiden’Fremd- und Selbstbestimmung

„Das ‚Prinzip Entscheidenlassen‘ oder ‚Autonomieprinzip’ nach Hahn intendiert, bei den kleinsten Angelegenheiten des Alltags dem Menschen mit geistiger Behinderung die Möglichkeit zu geben, zu entscheiden.“ (Weingärtner, S. 118)

2.Erfahren der eigenen Wirkung

Weingärtners Ausführungen hierzu können hier nur skizziert werden. Prinzipiell ist Selbstwirksamkeit basal erfahrbar als Bewirkung von Wirkung durch als eigenes Handeln identifiziertes Handeln.

selbstwirksamkeit

Weingärtner fasst zusammen: „Wenn sich Selbstbestimmung bei Menschen mit schwerer geistiger Behinderung durch das Autonomie-Prinzip (‚Selbstentscheiden’ nach Hahn) im praktischen Alltag umsetzten soll und dieses ‚Selbstentscheiden’ davon abhängig ist, wieweit sich die Koppelung von Handlung und Wirkerfahrung ausgebildet hat, dann ist die Berücksichtigung der Erfahrung der eigenen Wirkung im praktischen (pädagogischen) Alltag für die Umsetzung von Selbstbestimmung für diejenigen Menschen besonders wichtig, für die die Koppelung von eigener Aktivität und entsprechender Wirkerfahrung nur eingeschränkt ausgebildet ist.“ (S. 127)

3.Selbsttätigkeit

wird als „jede Form der selbstgesteuerten motorischen Aktivität“ (S. 130) aufgefasst. Die Bedeutung und enggeführte Brisanz wird von ihm verdeutlicht: „Selbsttätigkeit als Aspekt der Selbstbestimmung bei Menschen mit schwerer geistiger Behinderung hat insofern eine andere Bedeutung als ‚Entscheidenlassen’, als es den Menschen mit schwerer geistiger Behinderung nicht in die Rolle des Antwortenden stellt, sondern es ihm ermöglicht, aufgrund seiner Interpretation der Situation, selbst zu bestimmen etwas zu tun. Der Möglichkeitsraum (Freiheitsraum nach Hahn) ist größer, wenn der Mensch mit schwerer geistiger Behinderung nicht durch eine Frage eingeengt wird. Die intellektuellen Anforderungen können bei einer Selbsttätigkeit geringer sein als bei einem Entscheiden. Um selbsttätig zu sein, steht weniger die Vorwegnahme der Zukunft im Vordergrund, denn die Koordination der Motorik in der Gegenwart.“ (S. 134).

So viel von Weingärtners Konzept. Es bleiben Fragen nach dem Willen und der Eigentlichkeit geistig behinderter Menschen. Wille ist ein Mittel – gemeinsam mit anderen – sein Eigenes zu tun. Zu vergleichen und aus Alternativen wählen, was zu mir passt: sicher eine Basis fuer das Eigen-Sein. Eigenes Tun ohne etwas Anderes werden zu wollen. Oder: be not become. DAS können ALLE, oder nicht? OB der Einzelne und auf welcher Schwelle es tut, wer weiss? ICH weiss nicht, ob ein konkretes Individuum Wille hat oder nicht, sein Eigenes tut oder nicht. ABER: ich werde ihn genau so behandeln…. Darin  manifestiert sich meine Haltung erst in der konkreten Situation mit einem anderen konkreten Menschen. Die behinderten Kinder, mit denen ich gearbeitet habe, hatten alle IHRE Eigenheiten. Mir wäre nie in den Sinn gekommen, sie täten etwas anderes als ihr Eigenes. Manchmal passte mir das, manchmal nicht. Ein Junge liess sich ueber Monate nicht berühren, ohne Zeter und Mordio zu schreien. Er hatte – trotz starker geistiger Retardierung (IQ ca. Bei 65) – aufgrund seiner persoenlichen geschichte gute GRÜNDE, sich so zu verhalten. Nach etwa nem dreiviertel Jahr habe ich ihn versehentlich ueber den Handruecken beim Spielen mit der Eisenbahn gestreift. Er hat – was sehr selten geschah!- mich direkt angesehen. Und hat meine Hand auf seinen Handrücken GEDRÜCKT. und hat gelacht, befreit …

Hier haben wir allles: begruendetes Handeln, alternative Handlungsmoeglichkeiten, Entscheidung, Affektaeusserung und Veraenderung, sogar Interaktion. Und das mit nem 65-er IQ ! Fazit fuer mich: im Zweifelsfall tut mein Gegenueber gerade seinen Willen, auch wenn es mir vollkommen unmoeglich ist, zu beweisen, ob oder ob nicht irgendwelche geistigen Prozesse bei ihr / ihm ablaufen.

Ist es notwendig, sich diese Fragen zu stellen? Oder umgekehrt :  Was bedeutet das fuer uns diese Fragen nach Autonomie und geistiger Behinderung zu stellen?  Ändern wir unser Verhalten? Und woran merken wir das? TherapeutInnen müssen sich mit diesen Fragen beschäftigen, wenn sie mit geistig behinderten Menschen arbeiten wollen – und sie werden ihre Antworten finden. Da bin ich sicher!

 

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