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Ethik und Religion

Attacke!

Die Attacke auf das Unhaltbare, das uns hält, aber nicht in kindlicher Unschuld wiegt, ist eine Party-Einladung an unser Selbst den Wolf unserers Selbstschutzes dazu zu nutzen, nach vorne zu gehen. Er zerreisst den Schleier von Illusionen und Selbstlügen, wenn wir ihm den Feind beschreiben. Der Feind, das ist ist unsere (kollektive) Erfahrung von Selbstwichtigkeit und Egoismus aber auch die Erfahrung von jedeM von uns, sich klein, abgewertet und hilflos zu fühlen. Der Feind ist in uns und in unseren Interaktionen. Wir sind wach, können ihn genau beschreiben, gürten uns mit flammender Liebesenergie und furchterregenden Masken – auf dass er Reissaus nimmt. Die zornigen Gottheiten in ihren verzerrten Antlitzen zeigen uns in der Schlacht. Und es gibt diesen Feind wirklich. Er ist nicht nur eine Metapher, er verführt uns real dazu, von unserem Weg abzukommen. Er wirkt. Und wir erkennen ihn, reissen ihm seine Maske der Wohlanständigkeit vom Gesicht. Da erkennen wir sein wahres Gesicht, es gleicht unserem Wolf. Aber er hat sich nur wieder verkleidet, er gleicht ihm noch nicht einmal, sondern wütet uns hinunter. Der Krieg, den wir führen, ist immer gegen diesen Feind, diesen Erzfeind gerichtet. Er ist das wahrhaft BÖSE. Und wie es das Gute gibt, gibt es auch das Böse. Und es ist in uns und um uns herum. Und wir sollten – ja wir sollten – ihn attackieren, wo wir auf ihn treffen. Aber nicht, weil wir in einem irgendwie moralischen Sinn GUT sein wollen. Unser Freund, das Gute nährt sich aus unserem Selbst, das in Verbindung steht mit allen Anderen. Es ist unser eigenes Gut. Wir bestimmen – jedeR für sich – selbst darüber. Und was dir GUT ist, ist mir vielleicht BÖSE. Aber: es gibt keinen Unterschied! Wir führen alle den gleichen Kampf, den gleichen Krieg. In der Attacke handeln wir schnell, entschlossen und hochautomatisiert. Deswegen gewinnen wir in jedem Fall. Selbst wenn der Gegner uns in den schwärzesten Farben malt, stehen wir alle gemeinsam unter der Regenbogenbrücke und kämpfen – Seite an Seite. Eine zuerst, Einer folgt, Tausende ziehen in die Schlacht. 18.000 aus jeder Welt. Und da ist Stille im Angriff. Da ist heiliger Zorn, heilige Wut. Und wenn der Gegner uns schlägt ist uns jeder Schlag eine neue Erinnerung an unsere Zwecke, nicht unsere Gründe. Denn unser Feind will uns zum WEIL bringen, doch wir stürmen ins WOZU und WOHIN: zu uns selbst!

Bronte – Ich bin Rede – Thunder Perfect Mind

naghammadiDer unter dem Titel Bronte (griech. „Donner“) oder Vollkommener Verstand bekannte Text ist Teil der Nag-Hammadi-Schriften, einer 1945 in Ägypten gefundenen Sammlung vorwiegend gnostischer Texte. Dort erscheint er als zweite Schrift des Kodex VI (NHC VI,2) Quelle: wikipedia.de. Ich konnte mit Mühe eine sehr gute deutsche Übersetzung finden. Es gibt eine feine Vertonung von Current93 (Teil 1 / Teil 2) und einen Werbespot, der den Text aufgreift.

Vor vielen Jahren konnte ich den Text in voller Länge im alten Café Old Vienna im Rahmen einer von mir organisierten Performance vortragen. Leider gibt es meines Wissens davon keine Aufnahmen mehr.

Ich — bin — Rede

Ich wurde ausgesandt aus [der] Kraft.
Und ich bin zu denen gekommen, die an mich denken.
Und ich wurde bei denen gefunden (5), die nach mir suchen.

Schaut mich an, die ihr an mich denkt!
Und ihr Hörer, hört mich!
Ihr, die ihr auf mich wartet, nehmt mich bei euch auf!
Und verbannt mich nicht (10) aus eurem Gesichtskreis!
Und laßt weder eure Stimme mich hassen noch euer Hören!
Seid nicht unwissend über mich, überall und jederzeit!
Seid auf der Hut!
(15) Seid nicht unwissend über mich!

Denn ich bin die Erste und die Letzte.
Ich bin die Geehrte und die Verachtete.
Ich bin die Hure und die Heilige.
Ich bin die Frau und die (20) Jungfrau.
Ich bin *die Mutter* und die Tochter.
Ich bin die Glieder meiner Mutter.
Ich bin die Unfruchtbare, und viele sind ihre Söhne.
Ich bin die, deren Hochzeit(en) zahlreich sind, und (25) ich habe keinen Ehemann genommen.
Ich bin die Hebamme und die, die nicht gebiert.
Ich bin der Trost meiner Wehen.
Ich bin die Braut und der Bräutigam.
Und es ist mein Ehemann, der (30) mich gezeugt hat.
Ich bin die Mutter meines Vaters
und die Schwester meines Ehemannes,
und er (sc. mein Ehemann) ist mein Ursprung.
Ich bin die Sklavin dessen, der mich gezeugt hat.
Ich bin die Herrscherin ( 14.1) über meinen Ursprung.
Aber er (sc.\ mein Vater) ist der, der [mich gezeugt hat] vor der Zeit, an einem Tag der Geburt.
Und er ist mein Ursprung [in] (der rechten) Zeit,
und meine Kraft (5) stammt von ihm.
Ich bin der Stab seiner Kraft in seiner Jugend,
[und] er ist die Stütze meines Alters.
Und was immer er will, das widerfährt mir.

Ich bin das Schweigen, (10) das unerreichbar ist,
und der Gedanke (Epinoia), dessen Erinnern zahlreich ist.
Ich bin die Stimme, deren Klang zahlreich ist,
und das Wort, dessen Erscheinung zahlreich ist.
Ich bin das Aussprechen (15) meines Namens.

Warum liebt ihr mich, die ihr mich haßt,
und haßt die, die mich lieben?
Ihr, die ihr mich verleugnet, bekennt mich,
und ihr, die ihr mich bekennt, (20) verleugnet mich.
Ihr, die ihr die Wahrheit über mich sagt,
verbreitet Lügen über mich,
und ihr, die ihr über mich Lügen verbreitet habt,
sagt die Wahrheit über mich.
Ihr, die ihr mich kennt, seid unwissend über mich,
und die, die mich nicht (25) gekannt haben,
sollen mich erkennen.

Denn ich bin die Erkenntnis und die Unwissenheit.
Ich bin die Scham und die Offenheit.
Ich bin schamlos; ich bin (30) schamhaft.
Ich bin der Krieg und der Frieden.
Gebt acht auf mich!
Ich bin die, die verachtet ist, und (ich bin) die Große.

Achtet auf meine ( 15.1) Armut und meinen Reichtum.
Seid nicht hochmütig zu mir,
wenn ich auf die Erde geworfen bin,
[und] ihr werdet mich finden in [denen, (5) die] kommen.
Und schaut nicht [auf] mich (herab) in dem Dreck,
und verlaßt mich nicht, wenn ich ausgestoßen bin,
und ihr werdet mich in den Königreichen finden.
Schaut auch nicht (10) auf mich (herab),
wenn ich geworfen bin unter die Verachteten
und in die niedrigsten Orte.
Und lacht nicht über mich.
Und werft mich nicht hinab zu denen,
die Mangel haben in (ihrer) Hartherzigkeit.
(15) Ich aber, ich bin barmherzig, und ich bin grausam.

Seid auf der Hut!
Haßt nicht meinen Gehorsam,
und liebt nicht meine Enthaltsamkeit!
In meiner Schwacheit (20) laßt mich nicht im Stich!
Und fürchtet euch nicht vor meiner Kraft!
Denn warum verachtet ihr meine Furcht
und verflucht meinen Ruhm?
(25) Ich aber bin die, die in jeglicher Furcht ist,
und die Stärke in einem Zittern.
Ich bin die, die schwach ist,
und ich bin unversehrt an einem Ort der Freude.
Ich bin (30) unverständig,
und ich bin weise.

Warum habt ihr mich gehaßt in euren Gedanken?
Denn ich werde still sein bei denen, die still sind.
Und ich werde erscheinen und sprechen.
( 16.1) Warum nun habt ihr mich gehaßt, ihr Griechen?
Etwa, weil ich ein Barbar unter [den] Barbaren bin?
Denn ich bin die Weisheit [der] Griechen
und das Wissen [der] (5) Barbaren.
Ich bin das Gericht [für die] Griechen und die Barbaren.
[Ich] bin die, deren Abbild groß in Ägypten ist,
und die, die kein Abbild bei den Barbaren hat.
Ich bin die, die gehaßt wurde (10) überall,
und die, die geliebt wurde überall.
Ich bin die, die ,das Leben` genannt wird,
und ihr habt mich ,der Tod` genannt.
Ich bin die, die ,das Gesetz` genannt wird,
(15) und ihr habt mich ,die Gesetzlosigkeit` genannt.
Ich bin die, die ihr verfolgt habt,
und ich bin die, die ihr ergriffen habt.
Ich bin die, die ihr zerstreut habt,
und ich bin die, die ihr versammelt habt.
(20) Ich bin die, vor der ihr euch geschämt habt,
und ihr wurdet schamlos mir gegenüber.
Ich bin die, die keine Feste feiert,
und ich bin die, deren Feste zahlreich sind.
Ich, ich bin ohne Gott, und
(25) ich bin die, deren Gott groß ist.
Ich bin die, an die ihr gedacht habt,
und ihr habt mich verachtet.
Ich bin ohne Weisheit,
und Weisheit geht von mir aus.
Ich bin die, die ihr (30) verachtet habt,
und ihr denkt an mich.

Ich bin die, vor der ihr euch verborgen habt,
und ihr seid vor mir in Erscheinung getreten.
Wenn ihr euch nun verborgen haltet,
(35) werde ich mich selbst offenbaren.
( 17.1) Denn [wenn] ihr [in Erscheinung tretet]
— ich meinerseits [werde mich] vor euch [verstecken].

Die, die […] durch ihn […] (5) unverständig […].
Nehmt mich […] Verständnis aus Mühsal,
und nehmt mich zu euch auf durch ein Verstehen (10) [und] Mühsal. Und nehmt mich zu euch aus den Orten, die verachtet und zerstört sind,
und raubt von den guten Dingen, wenn auch in schamloser Weise.
(15) Aus Schande nehmt mich zu euch in Schamlosigkeit,
und aus Schamlosigkeit und Scham macht meinen Gliedern Vorwürfe.
Und (20) kommt zu mir,
ihr, die ihr mich kennt,
und ihr, die ihr meine Glieder kennt,
und gestaltet die großen (Geschöpfe) in den kleinen, ersten Geschöpfen.
Kommt (25) zu der Kindheit,
und verachtet sie nicht, weil sie klein und gering ist.
Und veranlaßt nicht, daß die großen Dinge in Teilen aus (30) Kleinheiten zurückkehren,
denn die kleinen (Dinge) werden aus den großen (Dingen) erkannt.

Warum verflucht ihr mich
und ehrt mich?
(35) Ihr habt (mich) verwundet,
und ihr habt Erbarmen (mit mir) gehabt.
Trennt mich nicht von den Ersten, ( 18.1) die ihr [erkannt] habt.
[Und] vertreibt niemanden, [und nicht] bringt jemanden zurück […] […] hat euch zurückgebracht und […] (5) [kennt] ihn nicht. […] Die, die mein ist […]. Ich kannte die [Ersten], und die nach ihnen [kannten] mich.

Ich aber bin der Verstand von […] (10) und die Ruhe des […].
Ich bin das Wissen meiner Erkundigung
und das Finden derer, die nach mir suchen,
und der Befehl derer, die mich bitten,
und die Kraft der Kräfte in meiner Erkenntnis (15) der Engel,
die ausgesandt wurden durch mein Wort,
und der Götter unter den Göttern durch meinen Rat
und der Geister eines jeden Mannes, der in mir ist,
und jeder Frau, (20) die in mir wohnt.

Ich bin die, die geehrt ist, und die, die gepriesen ist,
und die, die verachtet ist in Schande.
Ich bin der Frieden,
und der Krieg (25) ist meinetwegen entstanden.
Und ich bin eine Fremde und eine Bürgerin einer Stadt.
Ich bin das Wesen und die, die ohne Wesen ist.
Die aus meinem Zusammensein stammen, kennen (30) mich nicht,
und die, die in meinem Sein sind, kennen mich.
Die mir nahe sind, kannten mich nicht,
und die, die weit entfernt sind von mir, sind diejenigen, die mich erkannt haben.
(35) An dem Tag, an dem ich [euch] nahe bin, ( 19.1) [bin ich] euch fern,
und an dem Tag, an dem ich euch [fern bin], [bin ich] euch [nahe].

[Ich bin] (5) […] des Herzens.
[Ich bin] […] der Naturen.
Ich bin […] der Schöpfung.
Ich bin […] der Schöpfung der [Geister].
[…] Frage der Seelen.
[Ich bin] das Ergreifen und das Nichtergreifbare.
(10) Ich bin die Vereinigung und die Auflösung.
Ich bin das Verweilen, und ich bin das Lösen.
Ich bin das Herabkommen, und man wird zu mir heraufkommen.
Ich bin die Verurteilung (15) und der Freispruch.
Ich, ich bin ohne Sünde, und die Wurzel der Sünde stammt aus mir.

Ich bin die Begierde aus einem Sehen,
und die Enthaltsamkeit des Herzens (20) ist in mir.
Ich bin das Hören, das für jeden erreichbar ist,
und das Reden, das nicht faßbar ist.
Ich bin eine Stumme, die nicht spricht,
und groß (25) ist die Zahl meiner Worte.

Hört mich in Milde, und empfangt Belehrung in Härte.
Ich bin die, die schreit,
und ich werde (30) auf die Oberfäche der Erde geworfen.
Ich bereite das Brot und meinen Verstand innen.
Ich bin das Wissen meines Namens.
Ich bin die, die ausruft, und ich höre.

( 20.1) Ich trete in Erscheinung und […] gehe in […] Siegel meiner […] […]. (5) […].
Ich bin […] die Verteidigung […].
Ich bin die, die ,die Wahrheit` genannt wird,
und das Unrecht […].

Ihr ehrt mich […] (10) und ihr flüstert gegen [mich].
Ihr, [die] ihr besiegt seid, richtet die, (die euch besiegen), bevor sie euch richten, denn der Richter und die Beachtung sind in euch.
Wenn ihr verdammt werdet (15) von diesem, wer wird euch freisprechen?
Oder wenn ihr von ihm freigesprochen werdet, wer wird in der Lage sein, euch zu ergreifen?

Eure Innenseite ist eure Außenseite.
(20) Und der, der euch eure Außenseite gebildet hat, ist der, der eure Innenseite gestaltet hat.
Und was ihr außerhalb von euch seht, das seht ihr auch in eurem Inneren.
(25) Es ist offenbar, und es ist euer Gewand.

Hört auf mich, ihr Hörer, und lernt von meinen Worten, ihr, die ihr mich kennt.
Ich bin das Hören, das in jeder Hinsicht annehmbar ist.
(30) Ich bin das Reden, das nicht erreichbar ist.
Ich bin der Name der Stimme und die Stimme des Namens.
Ich bin das Zeichen des Buchstabens und die Offenbarung (35) der Trennung.
Und ich ( 21.1) ( die Zeilen 1–3 fehlen) […] Licht (5) […] und […] Hörer […] zu euch […] die große Kraft. Und […] wird den Namen nicht erschüttern. (10) […] der, der mich geschaffen hat.
Ich aber werde seinen Namen aussprechen.

Seht nun auf seine Worte und alle Schriften, die sich erfüllt haben.
Gebt acht, ihr Hörer, und (15) auch ihr, Engel, und die, die gesandt wurden, und ihr Geister, die von den Toten auferstanden sind.
Denn ich bin es, der allein existiert.
Und ich habe niemanden, (20) der mich richten wird.

Denn zahlreich sind die angenehmen Formen, welche in zahlreichen Sünden sind, und Zügellosigkeiten und schmähliche Leidenschaften (25) und kurzlebige Vergnügungen, welche (die Menschen) gefangen halten, bis sie nüchtern werden und hinauf an ihren Ruheort eilen.

Und sie werden mich dort finden, (30) und sie werden leben, und sie werden nicht wieder sterben.

Autonomie des Klienten UND der Therapeutin

Wie die Basis eines Eisbergs bestimmt unser Erfahrungsgedächtnis die in uns auftretenden Gefühle. Sie sind massgeblich an der Chance, eine bestimmte (verstandesmäßig bewußte) Handlung zu realisieren, beteiligt. Der Sprache entzogen leiten uns diese Gefühle entlang unserer entwickelten Persönlichkeit. Unsere Gefühle statten uns mit einem robusten, überlebensfähigen System aus. In diesem werden körperlich (mehr oder weniger deutlich wahrnehmbare) Marker gesetzt. Diese sind unmisverständlich als STOP oder GO Maximen formuliert. Die erfolgreiche Regulation aus körperlichen (somatischen /DAMASIO) Markern und bewusstseinsfähigen Willensinhalten zeigt den Grad von Zufriedenheit an. Praktisch ist diese Selbstregulation einer Selbstkontrolle (Quäl Dich!) vorzuziehen. Für den Therapieprozeß ergibt sich dadurch eine höhere Concordance wenn Therapeut und Klient in diesem Sinn verträgliche Regulationsschritte entwickeln können. Es braucht also auf der Makroebene partizipative Entscheidungsfindung, auf der Mikroebene soll möglichst wenig Selbstkontrolle und stattdessen möglichst viel Selbstregulation ermöglicht werden. Die Übungen, Hausarbeiten,Eigenwahrnehmungs- und Selbstlernprogramme stehen und fallen mit dem positiven gefühlsmäßigen GO-Signal des Klienten. Bloße Compliance als aktive MITarbeit in einem weitgehend paternalistisch geprägten Beziehungsgefüge genügt NICHT dem Gebot für den Klienten attraktive und (leicht) erreichbare Ziele zu entwickeln. Die Ziele müssen ein klares gefühlsmäßiges GO bekommen, damit die bestmöglichen Lern- und Erfahrungsbedingungen entstehen. Diese Überlegung basiert auf der ethischen Weichenstellung nicht-hierarchischer, gewaltfreier Beziehungen zwischen Akteuren des Prozesses, also Autonomie des Klienten UND der Therapeutin.

Winterberg

Ich sitze an einem Holztisch für locker 10 Menschen und schreibe auf, was mir einfällt. Vor 2 Tagen hatte ich meinen 39ten Geburtstag. Um mich herum eine tief verschneite Landschaft. Direkt vorm Haus eine Liftanlage für die Skifahrer. Ich sitze im Warmen. Ein Pott Kaffee neben mir . N*, S* und ihre Kinder sind schon draußen – Schlitten fahren. Pausbäckig gerötete Kindergesichter wenn sie zurückkommen werden. So wie gestern auch.

Ich hatte mir immer gewünscht in einer Schneehütte ganz allein die Zeit zwischen Weihnachten und dem sechsten Januar des folgenden Jahres verbringen zu können. Dort würde ich das alte Jahr zum Abschluss bringen und das neue Jahr gebührend beginnen. Diese Rauhnächte sind mir schon lange eine Zeit der Besinnung.

Nun bin ich mit meiner Partnerin J* und der Familie ihres Bruders S* hier. Die beiden Kleinen (J*: 3 Jahre alt, O*: 9 Jahre alt) können viel fragen und lachen. Das ist nicht ganz die Eremitage meiner Herzenswünsche. Aber wie alles im Leben, gibt es nicht nur das Schwarz-Weiß unbedingter sozusagen absoluter Situationen, sondern einen Bereich des Wünschenswerten, in dem es feine Abstufungen zwischen den Extrempolen an den äußeren Enden gibt. Ein imaginärer Schieberegler erlaubt es unserer Wahrnehmungsfähigkeit und Wirklichkeitsproduktion sich in diesem Bereich zu bewegen und uns selbst mit unserem Erleben hierin zu verorten.

So finde ich meine Orte der Stille und Kontemplation in den frühen Morgenstunden zwischen 05:30 Uhr und 07:00 Uhr bei langsamem Auftauchen der Helligkeit des Tages aus den Nebel verhangenen Nachtstunden. Ich stehe auf dem Balkon und starre in die Dämmerung. Die verschiedenen Schattierungen des Grau umfangen mich in einer kalten aber dennoch wohligen Umarmung.

Ich zähle meine Atemzüge bis zehn und murmle das „om-mani-padme-hum“-Mantra. Meine zusammengelegten Handflächen berühren meine Stirn, meinen Mund und mein Herz. Tränen laufen mir über die Backen, weil mich in diesem Moment eine Ahnung dessen, wer ich in Wirklichkeit bin oder zu sein wünsche, umfängt. Die Fähigkeit der Imagination eines Wunschbildes ermöglicht uns, dass wir uns diesem Bild annähern. Schritt für Schritt ganz ähnlich wie aus einem Block Stein der Steinmetz die Figur herausarbeitet. Die Eigen-Skulpturierung des Menschen macht ihn zu dem, der er seinem wahren Wesen nach ist – bzw. schon immer war.

Latent befindet sich dieses wahre Wesen innerhalb der erfahrbaren Person des Jetzt. Selbsterkenntnis meint im Kern die Erkenntnis genau dieses Wesens.

Die Selbsterkenntnis ist die hauptsächliche Handlung des Menschen, der sich innerhalb des Weltganzen und des Weltgeistes, des „logos“ verorten will. Ohne seinen eigenen, ja seinen ur-eigenen Platz in der Welt zu kennen, kann niemand davon ausgehen, in der Wirklichkeit wirksam Einfluss nehmen zu können.

Aber genau diese bewusste Manipulation des Wirklichen in Richtung des Wünschenswerten macht die Entwicklungs- und Entfaltungsmöglichkeit des Menschen aus, macht ihn erst zum Gestalter seines Bühnenbildes, zum Choreografen seiner Tänze, zum Regisseur seiner Filme und Stücke. Dies ist die Grundlage der Autorschaft, der Autorität des einzelnen Menschen gegenüber seiner Umwelt und der Natur – und nicht zuletzt – gegenüber sich selbst. Dies macht in der Gemeinschaft der Menschen die Kulturfähigkeit aus.

Ohne den Wunsch, „Veränderungen in Übereinstimmung mit seinem eigenen Willen zu bewirken“ (A.C.´s Definition von Magie), bleibt der Mensch Spielball der Interessen und Bedingungen einer als feindlich empfunden Umwelt oder gar einer Gegenwelt. Dies bleibt dem passiven „Opfer“ natürlich nicht verborgen. Daher versucht es sich zeit seines Lebens aus dieser Opferrolle zu befreien und gerät in ein scheinbar unauflösbares Dilemma: Im Versuch gegen die feindliche Umwelt sich durchzusetzen beginnt ein ewiger Kampf um Herrschaft über diese „naturgegebene“ Ordnung.

Der Revolutionär verortet in der Gesellschaftsordnung genau die Elemente der Natur, die er in seiner Menschheitsentwicklung immer zu bekämpfen gezwungen war. Damit ist der Revolutionär der gesellschaftliche Prototyp des aufbegehrenden, kämpfenden Menschen, der die Wirklichkeit nach seinem Willen zu verändern sucht. Aber im Gegensatz zu dem sich selbst erkennenden und verwirklichenden Menschen ist sein Kampf einer gegen Umstände und feindliche Mächte, die ohne sein Zutun die Herrschaft in der Gemeinschaft und Gesellschaft aufrechterhalten wollen. Der – ich nenne ihn einmal Selbstverwirklicher – will in erster Linie sich selbst erschaffen innerhalb einer sich dauernd ändernden Welt. Damit ist sein Kampf nicht in erster Linie gegen die Welt gerichtet, sondern findet in wechselseitiger Abhängigkeit von und in der Welt statt.

geschrieben in Winterberg am 05.01.2009