Gewohnheiten

Gewohnheiten sind die Aktivitäten, die Menschen regelmässig durchführen, ohne dass es hierzu jeweils eines bewussten Entschlusses bedarf. Regelmäßiges Händewaschen nach einem Toilettenbesuch, das Richten der Haare, Zähneputzen sind einfache Beispiele dessen, was in unserer regelmäßigen Routine auftaucht.

Dadurch, dass Gewohnheiten in einem weitgehend automatisierten Modus ablaufen, sind sie energetisch äusserst sparsame und optimierte Verhaltensweisen. Auto fahren, Rad fahren oder seine Schuhe zubinden – dafür müssen wir uns nicht anstrengen, das läuft automatisch. So automatisch, dass – wenn wir erklären sollten, wie wir das genau machen – ganz schön ins Schwitzen kommen. Es erinnert an die hohe koordinative Leistung eines Tausendfüsslers. Würden wir ihn fragen: „Wie machst du das eigentlich, mit Deinen ganzen vielen Füßen?““, könnte es gut sein, dass er ins Stolpern gerät.

So weit, so gut. Gewohnheiten helfen uns ungemein, unser Leben im Griff zu behalten. Und damit sind sie ziemlich nützlich. Nutzen könnten wir als ein Resultat fassen, das mit unserem Selbst kompatibel ist. Wenn wir bspw. als junges Mädchen gerne über die Hügel hinterm Haus gerannt sind und wir ein paar Jahre später anfangen, bei Wettläufen mitzulaufen, ist regelmäßiges Lauftraining eine Gewohnheit.

So eine Gewohnheit passt mit unserem Selbst ganz gut zusammen. Das Selbst kann beschrieben werden als die Erinnerungen oder das Gedächtnis daran, welche Erfahrungen wir als Person gemacht haben. Ich habe im zarten Alter von 12 Jahren angefangen, Gedichte und Texte zu schreiben. In den letzten 31 Jahren habe ich immer wieder geschrieben. Ich gewöhne mich daran, fast täglich zu schreiben. Ein Tag ohne Schreiben erzeugt ein Empfinden, dass mir da irgend etwas fehlt. Gewohnheiten, denen wir nicht nach gehen können, erzeugen eine gewisse Unsicherheit. So erklärt sich, dass manche Menschen fremde Toiletten oder Betten nicht wirklich mögen, sie sind ihre eigene Umgebung gewohnt.

Nizam – mein ceylonesischer Mitbewohner in einer Haus-WG in Hainfeld – hat mir einmal gesagt: „Das Leben, Friedrich, das besteht einfach aus ein paar guter Gewohnheiten!“. Sagte es, nahm den Besen und kehrte den Küchenboden. Reinlichkeit war ihm wichtig, hätte man meinen können, wenn man ihn so das Haus fegen sah. Tatsächlich war er allerdings gerade dabei, einer seiner „guten Gewohnheiten“ nachzugehen. Dies entspricht lose dem Weg des Karma Yoga, zu dem es in der Bhagavadgita (II.48) heisst: „Gib die Anhänglichkeit auf, o Arjuna, und vollbringe, im Yoga gefestigt, deine Werke. Sei gleichmütig gegen Erfolg und Misserfolg. Gleichmut wird Yoga genannt.“ Insofern war weder Reinlichkeit ein Wert, dem Nizam gefolgt wäre, noch war die Tätigkeit des Saubermachens zielgerichtet, um ein wie auch immer sich darstellendes Ergebnis zu zeitigen. Stattdessen lag für Nizam der Wert des Kehrens gerade darin, zu handeln – und zwar unabhängig davon, welchen Erfolg das Handeln hat. Auch gegen die Resultate des Handelns war er weitgehend unempfindlich. So erklärt sich, dass er wenige Minuten danach ohne Bedenken wieder Dreck machen konnte.

Das ist einerseits eine ziemlich komplizierte Geisteshaltung, die vor allem bei den Hinduisten im Zusammenhang mit dem Yoga Weg weit verbreitet ist. Das „Abstehen von der Frucht der Werke“ ist ein Kennzeichen der ichlosen Handlung des Yoginis. Dies bezieht sich auf einen Zweige des Yoga, nämlich den des Werkes (karma). Wissen und Empfinden sind zwei weitere Wege, denen der Gläubige folgen mag. Das Ziel darin ist „moksha“ – also „Befreiung“. Unfreiheit als Zwang, das zu tun, was nicht gottgefällig ist, ist für den Hinduisten ein Widerstand oder ein Hindernis. Und diese Unfreiheit gilt es, zu überwinden.

gewohnheitenWir kennen Gewohnheiten, die wir tun, obwohl sie unseren eigentlichen persönlichen Werten und Haltungen entgegenstehen. Ein stibitztes Kaugummi, die Übertretung von selbstgesetzten Regeln, mit der Freundin des besten Freundes in die Kiste zu steigen (zugegeben: eine äusserst schädliche Gewohnheit!). Wir können also sagen: es gibt Gewohnheiten, die uns nutzen und andere, die uns schaden. Und – um es hinreichend kompliziert zu machen: Es gibt Gewohnheiten, die uns gleichzeitig nutzen und schaden. Zudem gibt es eine vierte Gruppe von Gewohnheiten, die neutral sind (also weder schaden noch nutzen). Die vier Gruppen von Gewohnheiten sind in der nebenstehenden Grafik übersichtlich dargestellt.

Schön wäre es natürlich, wenn wir nützliche Gewohnheiten stärken, schädliche Gewohnheiten schwächen und neutrale Gewohnheiten mit Gleichmut betrachten könnten. Bei den schädlichen und nützlichen Gewohnheiten, die also ambivalent (mehrwertig) sind könnten wir Aufmerksamkeit auf sie richten, um herauszufinden, was da eigentlich passiert. Der Alltag ist aber – leider – ein wenig anders: Wir halten fest an schädlichen Gewohnheiten und werten uns ab, wenn wir sie gezeigt haben. Wir würdigen unsere nützlichen Gewohnheiten selten. Neutrale Gewohnheiten beachten wir kaum. Die ambivalenten Gewohnheiten erzeugen häufig Unsicherheit.

Ob es für einen Menschen, der nur noch nützlichen Gewohnheiten folgt, wirklich schön ist, so zu leben, ist eine ziemlich individuelle Fragestellung. Eine allerdings bedeutsame wie ich finde. Das Kaleidoskop von Gewohnheiten, die sich in unserem Verhalten zeigen, verfügt über viele Farben (in der Grafik). Alle gemeinsam beschreiben einen Farbraum, in dem sich menschliches Leben abspielen kann. Die Gruppen von Gewohnheiten kann jeder Mensch in seinem eigenen Leben vermutlich rasch selbst mit Beispielen anreichern. Dann stellt er/sie sich vielleicht die Frage: „Welche Gewohnheiten passen eigentlich zu mir?“ oder: „Welche Gewohnheiten brauche ich gar nicht mehr?“.

zyklus_gewohnheitenAutomatisertes Verhalten basierend auf Gewohnheiten macht einen Großteil unseres Verhaltens und unsers Repertoires möglicher Verhaltensweisen aus. Gerade dann, wenn der Stres hoch, die Zeit knapp und die Entscheidung über das mögliche Verhalten (scheinbar) wenig komplex ist zeigen wir automatisertes Verhalten.

Dadurch entsteht eine Wechselwirkung zwischen unserem Selbst und unseren Gewohnheiten. Die Etablierung neuer Gewohnheiten folgt einem komplexen Enstcheidungsmoment unter Unsicherheit. Neue Gewohnheiten sind instabil und störungsanfällig. Alte und neue Gewohnheiten können gleichzeitig koexistieren. Gut etablierte Gewohnheiten stabiliseren unser Auftreten als Persönlichkeit. Der Auf- und Abbau von Gewohnheiten scheint ein lebenslanger Prozess zu sein, der auch persönlichkeitskonstituierend und -stabilisierend wirkt. In der nebenstehenden Grafik wird dieser Zyklus bzw. dieses Beziehungsgefüge illustriert.

Ein kleines Video von Matthieu Ricard über das Training von Glücklichsein als Gewohnheit als kleine Anregung, inwiefern das in meinem Artikel Angesprochene bezüglich eines möglichen Ziels, nämlich „Glücklichsein“ angewendet werden könnte:

 

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