Kapitel 4: Authentisches Handeln

Der Begriff der Wahl wurde im letzten Kapitel bereits plastisch dargestellt. Im folgenden Text versuche ich, Begriffe der Eigentlichkeit –> Authentizität, Uneigentlichkeit –> Regression  (Luckner) in Beziehung zu setzen. Mir ist daran gelegen, verstehbar zu machen, WIE Interaktion in einem selbstgewählten Rahmen in meiner „Welt“ funktionieren kann. Daher bin ich auch nicht auf der Suche nach – mehr oder weniger – kurzlebigen, auf die Sensation hin angelegten Begegnungen. Authentische Menschen, reflektiert und tief, die ihre existenzielle WAHL getroffen haben und mit mir das WIE experimentierend erkunden, fehlertolerante Menschen wünsche ich mir bei mir.

„Authentisches Handeln ist Handeln, das in Übereinstimmung mit den präferierten Handlungsentwürfen des Selbst steht.“ (Julius Kuhl in seiner Replik auf Andreas Luckner, „Freies Selbstsein und Authentizität“, 2007, S. 125) Siehe: Quelle.

Die beiden Menschen (Psychologe der eine und Philosoph der andere) kommen zu sehr ähnlichen Ergebnissen. Ein Punkt scheint ihnen diskussionswürdig, nämlich die „existenzielle Wahl“. Gibt es Alternativen bei der Wahl, WIE ich sein will? Luckner meint aus erstpersönlicher Perspektive, dass diese Wahl alternativlos sei. Kuhl greift diese Perspektive der ersten Person auf und unterteilt sie funktionsanalytisch in ICH und SELBST. Während das ICH sich weitgehend hartkodiert an alternativen Wahlen abarbeitet (unter Stress etc.), erlaubt das SELBST eine Verrechnung und mindestens die BERÜCKSICHTIGUNG vieler (auch fein verästelter und nicht nur auf die eigene Person bezogener) Informationen (oder: Alternativen). Dann aber trifft das SELBST eine alternativlose WAHL. Dabei sind ICH und SELBST im Kuhlschen Sinn ja beide aus der ersten Perspektive gesehen.

Wir beschneiden uns selbst und schaffen mannigfaltige Misverständnisse, wenn wir nicht berücksichtigen, dass mit den beiden Begriffen sich ergänzende unterschiedlichen Situations-Reiz-Konstellationen (1) , Anreizobjekten (2), Zielen (3) und Sinn (4) gerecht werdende Funktionen der „ersten Person“ gemeint sind. Die ganze Diskussion um die Willensfreiheit wird damit ebenfalls neu beobachtbar.

Es gibt nach Kuhl und Hüther mindestens 4 verschiedene Wege „ins Handeln“:
Nachzulesen unter: http://www.llv.li/pdf-llv-asd-kuhl_060307.pdf
1) Man (S-R)
Gewohnheiten / Stereotypen (unabhängig von der Lust auf das Verhalten)
2) Es (Anreizobjekte)
irgendwelche Objekte bieten einen lustvollen Anreiz, sich verhaltend auf sie hin zu bewegen
1 + 2 –> fremdgesteuert nicht selbstbestimmt
Gegenstand des Behaviourismus / direkt messbar
3) Ich (Wollen) Ziel
Auch bei Unlust aktivierbare Willensbahnung möglich. Ich-bestimmt bewusst/ messbar, ob willentliche Handlung begangen wurde oder nicht (Kuhl & Kazen, 1999)
4) Selbst (Sollen) – Sinn
nicht-analytisch sondern v.a. unbewusste parallele Verarbeitung / konnektionistische Netzwerkmodelle können Vorgänge beschreiben

Und die Moral von der Geschicht´?

Wir können aufgrund dieser Hinweise in einen Überdenkensprozess einsteigen, wen wir eigentlich meinen, wenn wir „ich“ sagen. Was bringt uns dazu zu handeln / uns zu verhalten, WIE wir es tun? Es ermöglicht zu erklären, wieso wir uns zwar bspw. körperlich im Zeitablauf ändern können, aber sowohl von uns selbst als auch von anderen als kontinuierliches Phänomen verstanden werden.
Denn diese beiden Perspektiven Änderung vs. Kontinuität ermöglichen erst ein profundes und nicht profanes Verstehen eigener Vielschichtigkeit.

Das „Nicht-anders-Können“ bspw. Luthers vor dem Reichstag in Worms (1521) zeigt sehr schön auf, dass bei sprachempfindlicher „Übersetzung“ Luther hätte sagen können: „Mein Selbst erlaubt alternativlos bei Berücksichtigung aller (auch unbewusster) Gründe, Themen und der Moral etc. keine andere Entscheidung“. Dass er ICH benutzt (erste-Person-Perspektive) ist unter den hier angesprochenen Gründen fehlkategorisiert. Denn es ist ja gerade NICHT so, dass Luther entgegen der Regeln der Kirche etc. BEWUSST in Opposition gehen WOLLTE. Stattdessen hat er eine GEWISSENSENTSCHEIDUNG getroffen, nein sie hat sich ihm „alternativlos“ bemächtigt. Aber diese Bemächtigung war keine fremdbestimmte Angelegenheit, sondern funktionsanalytisch (im Sinne Kuhls) eine SELBST-Angelegenheit.

Anders wäre historisch seine Einlassung vermutlich auch gar nicht haltbar geblieben ohne sich noch härterer Strafe zu unterstellen. Damit berücksichtigt bereits 1521 der Reichstag diese ganz anders motivierte Handlung / Entscheidung. Um etwas anderes geht es jeweils beim „Abschwören“ und den „peinlichen Verhören“ der Hexenverfolgung. Die Machthaber wollen nicht auf der bewussten Ich-Wollens-Schicht oder ins Selbst eingreifen, sondern neue automatisierte Gewohnheiten gewaltsam etablieren, auch wenn auf oberflächlicher Schicht auch hier „das Gewissen erforscht“ werden soll.

Die systematische Vernichtung und Zerstörung menschlichen Lebens bedient sich heutzutage sehr feiner Mechanismen der Beeinflussung unserer unbewussten Schichten bspw. durch „Priming“ (Bargh lesen….). Damit sollen neue automatisierte Arten der Verhaltenssteuerung etabliert werden (1+2). Dies kann um so besser bemerkt werden, je klarer wir „spüren“ (im Sinne einer Aktivierung des SELBST) wo „primes“ in und auf uns wirken wollen. Wirksam ist möglicherweise eine selbstbestimmte „Impfung“ durch eigene Primes etc.

Wieso kann das für jeden Einzelnen wichtig werden?
Weil es so bedenkenswert wird, wer wir wirklich sind. Was uns ausmacht als einzelne Person. Worin unsere Stärken / Schwächen liegen in der Interaktion mit uns selbst und anderen. Wir können uns selbst besser verstehen lernen.

Wieso das Ganze so „verkopft“ / rein kognitiv von mir angegangen wird?
Weil ich den – mehr oder weniger esoterischen – Begründungen ebensowenig traue wie der „Wissenschaft“. Im Unterschied lassen sich wissenschaftliche Begründungen – zumindest in der Theorie – bezüglich ihrer Aussagen prinzipiell überprüfen. Wer kann schon etwas mit einem „wahren Wesen“, „Buddhanatur“, „höherem Selbst“ oder wie auch immer die Bezeichungen lauten mögen, WIRKLICH etwas anfangen? Mir waren fremde Kategorien- und Symbolsyteme schon immer suspekt.

Der Weg der Wahrheit – individuell, autonom und frei?
Wenn es nach mir geht – ja! Sämtliche Ideen, den Menschen nur als „zoon politikon“ also gemeinschaftliches Wesen zu begreifen verletzen meines Erachtens elementar die individuellen Freiheitsrechte. Jede Fremdbestimmung ausserhalb der selbstkongruenten (und sei sie ALTERNATIVLOS!) Selbstbestimmung ist für mich eine unhaltbare Zumutung und Gewalt. Freiheit bewegt sich immer aus der Perspektive derjenigen, die sie ersehnen oder sie leben. Für mich gibt es keinen überindivduellen Rahmen für Freiheit.

Alles (neo) liberales Geschwätz / Gerede?
Ich bin gar nicht liberal. Eher schon libertär. Der Liberalismus hebt auf die „rationale Entscheidung“ bzw. auf die „demokratisch gesicherte Wahlfreiheit“ unter „Toleranz“ ab. Das bedeutet mir kaum etwas! Ich habe letzthin gemeint: „Toleranz ist: wenn ich dir nicht gleich die Fresse poliere!“ Und diese Definition von Toleranz ist halt liberal. Und auf so ne Toleranz pfeife ich. Für mich besteht Leben nicht aus „beliebigen Wahlhandlungen“. Dezionalismus allein reicht bei weitem nicht aus, um der Vielfältigkeit und Vielschichtigkeit individuellen Erlebens gerecht zu werden. Ich kann auf moralischer Ebene allerdings keine Vorschläge mehr abgeben. Um ganz ehrlich zu sein, es ist mir herzlich gleichgültig, WAS Menschen tun, um sich selbst zu organisieren. Hauptsache für mich ist: Sie haben die CHANCE, sich frei einbringen zu können. Und das ist weit mehr, als nur zu WÄHLEN!

Aber wenn es Dir so „herzlich egal“ ist, WAS Menschen tun, um sich zu organisieren, könntest Du auch schweigen. Und damit viel sparsamer mit deinen (eigenen, individuellen) Gründen und Begründungen umgehen?!
Klar! Das KÖNNTE ich (ich habe eine Wahl). Und gleichzeitig scheint es mir bedeutsam zu sein, dass Menschen wenigstens die CHANCE haben, sich ihre eigenen Gedanken, Gefühle etc. zu machen, zu erleben. Dabei spielt es gar nicht die grosse Rolle, OB „die Menschen“ (in ihrer Allgemeinheit) daran interessiert sind, oder nicht. Denn diese Allgemeinheit interessiert mich nicht. Mich interessiert immer der Einzelne, die Einzelne. Und für mich ist im Einzelnen / der Einzelnen die Keimzelle für organisches Wachstum. Ohne selbstkongruent denkende,intuierende, spürende und fühlende Einzelwesen ist der gesellschaftliche „Überbau“ nur Makulatur, ein Feigenblatt vor existenzieller Nacktheit. Diese Nacktheit ist erstmal auszuhalten, finde ich! Und nach Verarbeitung und Berücksichtigung der Informationen, die ich gebe, entscheiden und handeln Menschen möglicherweise tiefer /bewusster /unbewusster als vorher. Diese Aneignung fremder Inhalte durch Berührung schafft erst den Einzelnen. Insofern geht es mir NICHT um Inhalte (also das WAS!), sondern vor allem um das WIE gemeinschaftlicher Organisation.

Du bist toleranzlos und rücksichtslos in deiner Haltung!
Ich habe keine Toleranz und keinen Millimeter Platz in meinem Leben für den überbordenden Fundamentalismus (sei er religiös oder moralisch begründet). Und ich nehme keine Rücksicht auf die Empfindungen fundamental operierender oder argumentierender „Menschenhaufen“ – auch nicht in Gestalt eines – im Heideggerschen Sinn – „uneigentlichen“ Einzelnen. Schutzwürdig ist mir der Einzelne / die Einzelne in seiner „alternativlosen“ authentischen Haltung, der mir begegnet. Und ich entscheide darüber, ob er/sie das für mich ist oder nicht. Und genau dieses Recht billige ich dem existentiell Anderen ebenso zu wie mir selbst . Nicht mehr – und nicht weniger!

Damit stellst du doch selbst wieder eine Maxime auf, bist also auf moralischer Ebene gelandet – wo Du doch gar nicht hin wolltest, oder?
Das ist für Viele schwer nachvollziehbar oder auseinander zu halten. Ich spreche nicht im Rahmen einer überindividuell gültigen Moralebene, also einer – wie auch immer gearteten „Norm“ (Richtschnur). ABER: Ich handle entlang meiner eigenen Maximen. Allerdings verzichte ich dankend auf den Kantschen „kategorialen Imperativ“. Ich bin nicht als weisser, europäischer Mann angetreten, um der WELT zu sagen, wo´s langgeht. Oder um nun doch noch einen religiös motivierten Schriftsteller zu Wort kommen zu lassen, der das Ganze freilich aus ganz anderer Perspektive als ich gerade beschreibt.

„Je geheimnisvoller im Grunde, desto offenbarer bieten sie [die Dinge] sich dar. Je schweigsamer mit Rücksicht auf letzte Fragen, um so weniger verschweigen sie sich selbst. Dies macht, dass der Schauende sie ihren eigenen Weg gehen lässt, ohne sich mit eigenen Anliegen einzumischen. Weit davon entfernt also, sie als bloße Erscheinungen [Phänomene] des an sich selbst in diesem Stadium noch unzugänglichen und unfassbaren Urgrundes [ALAYA ?!] zu nehmen, lässt er unbefangen jedes Ding als es selbst gelten. Dies gelingt in erstaunlichem Grade durch die Eigenart dieser selbstlosen [sic!] Schau: weit über die Grenzen der belebten Natur hinaus steht der Schauende in innigstem Kontakt [ich nenne das: Berührung] mit den Dingen und ihren Schicksalen – auch mit denjenigen, die ganz im stofflichen Dasein aufzugehen scheinen, und vermag diesen Kontakt gelegentlich sogar bis zum Rang völligen Einsseins [Über dem Selbst!] zu steigern (ob zu führen oder geführt werden, stehe dahin).“
Eugen Herrigel, Der ZEN-Weg, 1958, Auflage 1992, S. 33).

Hier gibt es nichts Fremdes mehr und nichts Eigenes. Jedenfalls nicht in der Schau und für den Schauenden. Ein BETRACHTER mag das alles bewerten, bewusst reflektieren etc. Die Schau ist beziehungslos und enthebt den Schauenden gar von der bisher in diesem Text verwendeten und bemühten Selbstebene / Selbstfunktion. Für mich liegt darin die Sprengkraft und das Unerhörte.

Dass wir – in dem Masse wie jedeR Einzelnen es vermag – wir SELBST werden, bereiten wir den Boden für Selbst-LOSIGKEIT in uns Einzelnen. Daher sind meine KÄMPFERISCHEN Worte – wenn es mir denn je um Moral ginge – ein Mittel zum Zweck einer mitfühlenden Haltung. Wie der Lotus aus dem Schlamm wächst, geht kein Weg um unser Selbst herum dorthin. Dorthin wo Mitgefühl kein Reflex, nicht attraktiv erscheint, ist, keine Willensentscheidung, keine Pflicht und kein Sollen mehr ist, sondern selbstlos wirkt. Mitgefühl aus rücksichtsloser, vorbehaltloser, individueller autonomer Freiheit. Mitgefühl – wie ich es meine – ist mitleidlos!

Hier wird schon angedeutet, welche Verbindung zwischen Freiheit und einer – sagen wir „mitleidlosen Liebe“ bestehen kann, doch bevor ich mich der Liebe widme, wird der Zusammenhang von Freiheit und Zugehörigkeit zu klären sein. Zwischen Unabhängigkeit des / der Einzelnen und Zugehörigkeit erstreckt sich ein Beziehungsfeld. Dies beginnt im SELBST und führt zum „DU“ – wie auch Buber beschreibt. Von diesem Thema wird im nächsten Kapitel die Rede sein. Gilligan hat in seinem Selbstbeziehungskonzept schlüssige Hinweise hierzu gegeben.

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