DIE LEERHEIT DER ACHT EXTREME (Geshe Kelsang Gyatso)

„Wenn alle notwendigen atmosphärischen Ursachen und Bedingungen zusammentreffen, erscheinen Wolken. Sind diese Umstände nicht vorhanden, können sich keine Wolken bilden. Wolkenbildung ist vollständig von Ursachen und Bedingungen abhängig. Ohne sie können sich keine Wolken bilden. Gleiches gilt für Berge, Planeten, Körper, den Geist und alle anderen erzeugten Phänomene. Da ihre Existenz von Faktoren außerhalb ihrer selbst abhängig ist, sind sie leer von inhärenter oder unabhängiger Existenz und sind bloße Zuschreibungen des Geistes.
Über die Lehre des Karmas, Handlungen und ihre Wirkungen, nachzudenken kann uns helfen, dies zu verstehen. Woher kommen alle unsere guten und schlechten Erfahrungen? Dem Buddhismus zufolge sind sie das Ergebnis des positiven und negativen Karmas, das wir in der Vergangenheit erzeugt haben. Als Folge von positivem Karma treten attraktive und angenehme Menschen in unser Leben, erfreuliche Lebensbedingungen entstehen und wir leben in einer schönen Umwelt; aufgrund von negativem Karma hingegen treten unangenehme Leute und Dinge in Erscheinung. Diese Welt ist die Auswirkung des kollektiven Karmas, das von den Wesen, die sie bewohnen, erzeugt wurde. Da Karma seinen Ursprung im Geist hat – insbesondere in unseren geistigen Absichten –, können wir erkennen, dass alle Welten aus dem Geist entstehen. Das ist ähnlich der Art und Weise, wie Erscheinungen in einem Traum entstehen. Alles, was wir beim Träumen wahrnehmen, ist das Ergebnis des Heranreifens karmischer Potentiale in unserem Geist und besitzt keine Existenz außerhalb unseres Geistes. Ist unser Geist ruhig und rein, reifen positive Prägungen heran und angenehme Traumerscheinungen entstehen; ist unser Geist jedoch erregt und unrein, reifen negative Prägungen heran, und unangenehme, albtraumhafte Erscheinungen sind die Folge. In ähnlicher Weise sind alle Erscheinungen unserer Welt des Wachzustandes nur auf das Heranreifen von positiven, negativen oder neutralen Prägungen in unserem Geist zurückzuführen.
Haben wir einmal verstanden, wie die Dinge aus ihren inneren und äußeren Ursachen und Bedingungen entstehen und keine unabhängige Existenz haben, dann wird uns der bloße Anblick oder das Nachdenken über die Erzeugung von Phänomenen an deren Leerheit erinnern. Anstatt unseren Eindruck von Stabilität und Objektivität der Dinge zu untermauern, werden wir beginnen, die Dinge als Manifestation ihrer Leerheit zu betrachten, die ebenso wenig konkrete Existenz besitzen wie ein Regenbogen, der aus einem leeren Himmel erscheint.
So wie die Erzeugung von Dingen von Ursachen und Bedingungen abhängig ist, so ist es auch der Zerfall von Dingen. Deshalb können weder Erzeugung noch Zerfall wahrhaft existierend sein. Wenn zum Beispiel unser neues Auto zerstört würde, wären wir unglücklich, da wir sowohl am Auto als auch am Zerfall des Autos als inhärent existierend festhalten; verständen wir aber, dass unser Auto eine bloße Erscheinung unseres Geistes ist – so wie ein Auto in einem Traum –, würde uns seine Zerstörung nichts ausmachen. Das gilt für alle Objekte unserer Anhaftung; wenn wir realisieren, dass es den Objekten und ihren Beendigungen an wahrer Existenz fehlt, gibt es keinen Grund sich aufzuregen, wenn wir von ihnen getrennt werden.
Alle funktionierenden Dinge – unsere Umwelt, unsere Vergnügen, unser Körper, unser Geist und unser Selbst – ändern sich von einem Moment zum nächsten. Sie sind insofern unbeständig, als sie nicht einen zweiten Moment lang andauern können. Das Buch, das Sie im Augenblick lesen, ist nicht dasselbe Buch das Sie eben noch gelesen haben, und es konnte nur entstehen, weil das Buch von eben aufgehört hat zu existieren. Wenn wir subtile Unbeständigkeit verstehen, dass nämlich unser Körper, unser Geist, unser Selbst und so weiter nicht über den Augenblick hinaus bestehen
bleiben, ist es unschwer zu verstehen, dass sie leer von inhärenter Existenz sind.
Obwohl wir möglicherweise damit einverstanden sind, dass unbeständige Phänomene leer von inhärenter Existenz sind, meinen wir vielleicht, dass beständige Phänomene, weil sie unveränderlich sind und nicht aus Ursachen und Bedingungen entstehen, inhärent existieren müssen. Doch selbst beständige Phänomene wie Leerheit und nichterzeugter Raum (die bloße Abwesenheit von physischer Behinderung) sind in abhängiger Beziehung stehende Phänomene, da sie von ihren Teilen, ihrer Basis der Zuschreibung und dem Geist, der sie zuschreibt, abhängen. Somit sind sie nicht inhärent existierend. Obwohl Leerheit endgültige Wirklichkeit ist, ist sie nicht unabhängig oder inhärent existierend, denn selbst sie hängt von ihren Teilen, ihren Grundlagen und den Geistesarten ab, die sie zuschreiben. So wie eine Goldmünze nicht unabhängig von ihrem Gold existieren kann, genauso existiert auch die Leerheit unseres Körpers nicht getrennt von unserem Körper, weil sie lediglich das Fehlen der inhärenten Existenz unseres Körpers ist.
Wenn wir an irgendeinen Ort gehen, entwickeln wir den Gedanken: „ich gehe“, und halten an einer inhärent existierenden Handlung des Gehens fest. Wenn uns jemand besuchen kommt, denken wir in ähnlicher Weise: „er kommt“, und halten an einer inhärent existierenden Handlung des Kommens fest. Beide Vorstellungen sind Festhalten am Selbst und falsche Gewahrseinsarten. Geht jemand weg, dann haben wir das Gefühl, dass eine wahrhaft existierende Person wahrhaftig weggegan ist, und wenn sie zurückkommt, haben wir das Gefühl, dass eine wahrhaft existierende Person wahrhaftig zurückgekehrt ist. Das Kommen und Gehen von Menschen gleicht jedoch dem Erscheinen und Verschwinden eines Regenbogens am Himmel. Wenn die Ursachen und Bedingungen für die Erscheinung eines Regenbogens zusammenkommen, taucht ein Regenbogen auf, und wenn sich die Ursachen und Bedingungen für das weitere Erscheinen des Regenbogens auflösen, verschwindet er; doch der Regenbogen kommt weder von irgendwo her, noch geht er irgendwo hin.
Wenn wir ein Objekt, beispielsweise unser Ich, beobachten, sind wir überzeugt, dass es sich um eine einzelne, unteilbare Wesenheit handelt und dass seine Einzahl inhärent existierend ist. In Wirklichkeit jedoch besteht unser Ich aus vielen Einzelteilen: Teilen, die schauen, hören, laufen und denken, oder auch Teilen, die eine Lehrerin, eine Mutter, eine Tochter und eine Ehefrau sind. Unser Ich wird der Ansammlung dieser Teile zugeschrieben. Wie jedes andere Einzelphänomen auch ist es eine Einzahl. Diese Einzahl jedoch ist lediglich zugeschrieben, genauso wie es eine Armee ist, die bloß auf eine Ansammlung von Soldaten zugeschrieben ist, oder ein Wald, der auf eine Ansammlung von Bäumen zugeschrieben ist.
Wenn wir mehr als ein Objekt sehen, betrachten wir die Vielzahl dieser Objekte als inhärent der einzelnen Soldaten oder Bäume zu betrachten, können wir sie als Armee oder Wald betrachten, als einzelne Ansammlung oder Ganzes also, so dass wir dann eine Einzahl statt einer Mehrzahl vor uns haben. Zusammenfassend können wir sagen, dass eine Einzahl nicht aus sich selbst heraus existiert, denn sie wird einfach nur auf eine Mehrzahl, ihre Einzelteile, zugeschrieben. In gleicher Weise existiert eine Mehrzahl nicht aus sich selbst heraus, weil sie auf eine Einzahl, die Ansammlung ihrer Teile, zugeschrieben wird. Einzahl und Mehrzahl sind somit bloße Zuschreibungen eines begrifflichen Geistes, und es fehlt ihnen an wahrer Existenz. Wenn wir dies deutlich realisieren, besteht kein Grund Anhaftung und Wut für Objekte zu entwickeln, weder für eine Einzahl noch eine Mehrzahl. Wir neigen dazu, die Fehler und die Qualitäten von wenigen auf viele zu projizieren, und entwickeln daraufhin Hass oder Anhaftung, zum Beispiel auf der Grundlage von Rassenzugehörigkeit, Religion oder Nationalität. Über die Leerheit von Einzahl und Mehrzahl nachzudenken kann hilfreich sein, Hass oder Anhaftung dieser Art zu vermindern.
Obwohl Erzeugung, Zerfall und so weiter existieren, existieren sie nicht inhärent. Es sind unsere begrifflichen Geistesarten der Unwissenheit des Festhaltens am Selbst, die an ihnen als inhärent existierend festhalten. Diese Vorstellungen halten an den acht Extremen fest: inhärent existierende Erzeugung, inhärent existierender Zerfall, inhärent existierende Unbeständigkeit, inhärent existierende Beständigkeit, inhärent existierendes Gehen, inhärent existierendes Kommen, inhärent existierende Einzahl und inhärent existierende Mehrzahl. Obwohl diese Extreme nicht existieren, halten wir aufgrund unserer Unwissenheit immer an ihnen fest. Alle anderen Verblendungen wurzeln in den Vorstellungen dieser acht Extreme, und weil Verblendungen verursachen, dass wir verunreinigte Handlungen ausführen, die uns im Gefängnis Samsaras gefangen halten, sind diese Vorstellungen die Wurzel Samsaras, des Kreislaufs unreinen Lebens.
Inhärent existierende Erzeugung ist das gleiche wie die Erzeugung, die wir normalerweise sehen, und wir sollten wissen, dass in Wirklichkeit keine von diesen existiert. Das gleiche gilt für die restlichen sieben Extreme. Zum Beispiel ist inhärent existierender Zerfall und Zerstörung und der Zerfall und die Zerstörung, die wir normalerweise sehen, das gleiche, und wir sollten wissen, dass beide nicht existieren. Unsere Geistesarten, die an diesen acht Extremen festhalten, sind unterschiedliche Aspekte unserer Unwissenheit des Festhaltens am Selbst. Weil es unsere Unwissenheit des Festhaltens am Selbst ist, die uns endlose Leiden und Probleme erfahren lässt, wird all unser Leiden in diesem und zahllosen zukünftigen Leben dauerhaft aufhören und wir werden den wirklichen Sinn des menschlichen Lebens erfüllen, wenn diese Unwissenheit durch Meditation über die Leerheit aller Phänomene dauerhaft aufhört.
Das Thema der acht Extreme ist tiefgründig und erfordert ausführliche Erläuterungen und ausgedehnte Studien. Buddha beschreibt sie im Detail in den Sutras der Vollkommenheit der Weisheit. Und Grundlegende Weisheit, einem Kommentar zu den Sutras der Vollkommenheit der Weisheit, führt Nagarjuna viele tiefgründige und kraftvolle Begründungen an, um zu beweisen, dass die acht Extreme nicht existieren, indem er aufzeigt, wie alle Phänomene leer von inhärenter Existenz sind. Durch die Analyse konventioneller Wahrheiten begründet er ihre endgültige Natur und zeigt, weshalb es nötig ist, sowohl die konventionelle als auch die endgültige Natur eines Objektes zu verstehen, um das Objekt in vollem Umfang zu verstehen. (…) in einem Kommentar zu den Sutras der Vollkommenheit der Weisheit, führt Nagarjuna viele tiefgründige und kraftvolle Begründungen an, um zu beweisen, dass die acht Extreme nicht existieren, indem er aufzeigt, wie alle Phänomene leer von inhärenter Existenz sind. Durch die Analyse konventioneller Wahrheiten begründet er ihre endgültige Natur und zeigt, weshalb es nötig ist, sowohl die konventionelle als auch die endgültige Natur eines Objektes zu verstehen, um das Objekt in vollem Umfang zu verstehen.“

Auszug aus: Geshe Kelsang Gyatso. „Moderner Buddhismus: Band 1: Sutra.“ Tharpa-Verlag, 2011. iBooks.
Dieses Material ist möglicherweise urheberrechtlich geschützt.

Dieses Buch im iBookstore ist lesenswert: https://itunes.apple.com/WebObjects/MZStore.woa/wa/viewBook?id=499844328

Kommentar verfassen