Selbstakzeptanz (Donna Lynn Matthews)

Ich habe den folgenden Text von Donna Lynn Matthews, April 2006 heute übersetzt. Sämtliche Rechte liegen bei ihm/ihr.
Er/Sie befasst sich mit Genderqueer – und als ich den Text heute morgen gelesen habe, habe ich mir ein Herz gefasst, um ihn hier zu veröffentlichen. Ich finde, er beschreibt sehr schön die Gedanken, die auch mich beschäftigen – und ihr/sein Text hat mich einmal mehr ermutigt, mich so zu akzeptieren, wie ich bin – nicht wie ich sein sollte.
 

Wer denken wir, dass wir sind?

Wir alle haben eine Identität – mindestens denken wir, dass wir eine haben. Wir können einen ganzen Waschzettel von Charakterzügen, Attributen, Glauben und Vorlieben runterrasseln – und dabei behaupten, das alles seine wir. wenn wir jedoch anfangen, das zu untersuchen, werden wir entdecken, dass das Meiste – wenn nicht sogar Alles – von dem, was wir als Aspekte unserer Identität behaupten – wer wir also sind – Ideen, Konstruktionen, Glaube und Zeug, das wir als unser Eigenes angenommen haben. Sogar jene neuen ‚Ideen‘, die wir haben, basieren tatsächlich auf anderen Information, die wir von der Welt um uns geliehen haben.

Der Kern unseres Selbstsinns – unserer Identität – wird uns größtenteils gegeben. Wir sind geboren, ein Arzt sieht uns durch und erklärt, dass wir entweder ein ‚Junge‘ oder ein ‚Mädchen‘ sind – und von diesem Tag an, werden wir geführt – oder trainiert – gerade dass zu sein: entweder ein ‚Mann‘ oder eine ‚Frau‘. Das ist etwas, über das wir keine Kontrolle haben. Infolgedessen ist dieser Teil unserer ‚Identität‘ – tatsächlich – uns diktiert wurden, und wir wachsen auf glaubend, dass es das ist, wer wir sein sollen. Ein ‚Mann‘ oder ‚Frau‘ zu sein, war nicht unsere Idee. Und infolgedessen wachsen wir auf, uns verschieden und irgendwie getrennt davon fühlend, was wir sein sollen. Schließlich, in einem Versuch, damit fertig zu werden, entwickeln wir eine andere Identität.

Und wie viele Leute sind hier in uns?

Wir alle haben eine Identität – oder zwei. An einem Punkt entwickeln wir diesen ‚anderen‘ Charakter, der jetzt die Verkörperung aller dieser ‚anderen‘ Gefühle wird. Wir spulen das ‚Herr Man‘ Programm ab – der männlichen Seite – der Bier, Sportarten und Macht-Werkzeuge mag. Und wir spulen das ‚Frau Woman‘ Programm ab – der weiblichen Seite – die Schaumbäder, hübsche Kleider und das Einkaufen von Schnäppchen mag.

Als ein Bewältigungsmechanismus, erlaubt uns die Aufteilung von allen diesen ‚anderen‘ und ‚verschiedenen‘ Gefühlen das Trugbild der Normalität. Wir können aussehen, so ähnlich sein und wie alle anderen ‚Männer‘ und ‚Frauen‘ sein ohne an die verflixten im Weg stehenden ‚Gefühle‘ zu denken. Es erlaubt uns, wie jeder andere zu sein – eine Zeit lang jedenfalls.

Aber guckt ‚Frau Woman‘ kein Fussballspiel an?
Will ‚Herr Man‘ nicht auch hübsch aussehen‘?
Gehen sie beide zusammen nicht einkaufen (und freuen sich daran)?

Während die Zeit weitergeht, werden beide ‚Seiten‘ beginnen, in einander zu sickern. Die Gedanken und Gefühle von demjenigen beginnen, in den anderen vorzudringen, bis wir begreifen müssen, dass es keine andere ‚Seite‘ – keinen anderer Charakter gibt. Alle Gedanken und die Gefühle sind diejenigen einer Person, und sie sind dort unser komplettes Leben gewesen – wir konnten sie nur gerade nicht akzeptieren als etwas, das zu uns gehört.

Sich mit der „Warum“ – Frage befassend

Und während all das weitergeht, grübeln wir weiter – und quälen uns mit der einen Frage:

Warum bin ich so?

Es ist eine gültige Frage: wir wollen einen Grund dafür, uns zu fühlen, wie wir uns fühlen und zu sein, wie wir sind. Das Problem damit besteht darin, dass wir dazu neigen, uns darin – fast zum Punkt der Obsession zu verlieren. Das erste Ding, das wir begreifen müssen, besteht darin, dass wir sind, wie wir sind und das Antworten auf die ‚Warum‘ Frage diese Tatsache nicht ändern wird. Das bedeutet nicht, dass wir aufhören sollten, uns infrage zu stellen und zu lernen – es bedeutet einfach, dass wir am wahrscheinlichsten eine vollständige und persönlich befriedigende Antwort nie bekommen werden. Wir werden Theorien und Vermutungen anstellen – einige besser als andere – aber wir sollten nicht annehmen, jemals eine wahre Erklärung zu bekommen. In der Gesellschaft, wie sie heute organisiert wird, bist du jenseits der ’stereotypen Geschlechterrollen‘ (FF – im Original: „transgendered“) , und du kannst dich daraus nicht herausreden.

Das Verstehen der Schuld und Scham

„Wenn ich nur verstände, warum ich so bin, würde ich mich nicht so schlecht mit mir fühlen.“ Ja, wir neigen dazu, sehr hart mit uns umzugehen. Es gibt viel Schuld und Scham, die damit entsteht, wer wir sind. Und während das unvermeidlich ist, braucht es nicht dauerhaft zu sein. Was wir tun müssen, ist zu verstehen, was Schuld und Scham sind, und was diese Gefühle bedeuten.

Wir alle haben eine Reihe innerer Ideale, die bestimmen, wie wir unsere Leben leben. Wir übersetzen diese Ideale größtenteils in die Form ‚was wir tun sollten‘: ich sollte gut, respektvoll, gesetzestreu sein, usw. ‚Sollte‘ Regeln gehören zu einer Reihe von Standards, die wir für uns setzen. Wenn wir scheitern, jenen Standards zu entsprechen – wenn wir hinter unseren eigenen Erwartungen ‚zurückbleiben‘, fühlen wir uns schuldig. Kurz gesagt, wir haben uns enttäuscht.

‚Soll‘-Regeln sind oft nicht mit Angst vor einer möglichen Strafe assoziiert – dafür sind die ‚Müssen‘- Regeln gut. ‚Müssen‘ Regeln, werden gewöhnlich in der Form von ‚du musst x tun, oder es wird y passieren ‚ gebildet. Wobei y gewöhnlich eine Form der Strafe ist. Diese ‚Müssen‘ Regeln, beziehen sich auf die Verhaltenskontrolle (Vermeidungungsverhalten – FF) : um Strafe zu vermeiden, muss ich das Folgende tun.

Eingeschlossen in diesen Satz von inneren Idealen sind unsere Gefühle davon, wie wir hinsichtlich unseres Geschlechtes sein sollten. Jeder hat ein Image des idealen ‚Mannes‘ oder ‚der Frau‘, und du bemühst dich, diesem Image zu entsprechen. In unserem Fall aber haben wir zwei Ideale:
– idealer ‚Mann‘ oder ‚Frau‘, die wir beigebracht bekommen haben
– und die ideale ‚Person‘ zu sein, die wir in uns sehen.
An dieser Stelle fangen unsere Schwierigkeiten an. Wir fühlen uns schuldig und beschämt, wenn wir scheitern, den Erwartungen zu entsprechen, der ‚Mann‘ oder ‚die Frau‘ zu sein, die wir sein sollen. Aus einer sozialen Perspektive sehen wir uns als Versager, als die jeningen, die keinen Erfolg damit haben. Zur gleichen Zeit fühlen wir uns schuldig und beschämt, wenn wir scheitern zu sein, was wir als ‚wahr‘ bezüglich unseres Selbstbilds betrachten. Wir erleben eine ‚Double Bind‘- und (leider) keine Gewinn-Situation. Wie wir sein sollen, und wer wir finden, dass wir sind: das passt nicht zusammen und zwar in einer entgegegesetzten Art und Weise.

Wir wissen bereits, dass zu sein, wie wir sein sollen, sich für uns falsch anfühlt – unabhängig davon, wie wir erzogen wurden. Und entgegen unserer Sozialisierung zu handeln fühlt sich ebenso falsch an. Das ist, wo viele von uns stecken bleiben: wir schleichen ringsherum, machen unsere Sache und hassen uns später. Wir versuchen das alles zu beseitigen und/oder versuchen, unsere Gefühle zu bestreiten und hassen uns dafür. Wir wiederholen das seit Jahren – manchmal unsere kompletten Leben. Wir werden gefangen in einem Zyklus der Schuld und Scham, von der es anscheinend keine Flucht gibt.

Das Brechen des Zyklus

Das ist der Punkt, wo es schwierig wird. Es gibt einen Ausweg aus dem Zyklus, aber er verlangt, dass wir etwas akzeptieren, wogegen wir unser komplettes Leben angekämpft haben:

Wir werden nie normal sein.

Normal wird hier definiert als, diese Person zu sein, von der uns gesagt wurde, dass wir sie zu sein haben: der ‚Mann‘ oder ‚die Frau‘ , die wir unser Leben lang versucht haben, zu sein. Wir werden den Erwartungen von uns oder der Gesellschaft in dieser Beziehung nie entsprechen.

Denk für einen Moment darüber nach, was das bedeutet. Wir geben unsere Leben dahin, um hineinzupassen – um nicht verschieden zu sein. Und doch, trotz unserer besten Anstrengungen, scheinen wir nie im Stande zu sein an diesen Punkt zu kommen. Zu akzeptieren, dass wir nie ‚reinpassen‘ werden, wie es uns als Ideal angepriesen worden ist, ist eine schmerzhafte Erkenntnis. Für einige scheint es eine Lebenszeit der Sinnlosigkeit zu sein. Für andere ist es einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe im Exil ähnlich. Ohne das Trugbild ‚der Normalität‘, hinter der man sich in fast allen Fällen verbirgt, fühlen wir uns zum ersten Mal völlig bloßgestellt (und verletzlich-FF).

Erinnerst du dich an die Schuld, die wir fühlten? Die Schuld nicht dem zu entsprechen, wer wir sein sollen? Sobald wir akzeptieren, dass wir nie diese Person sein werden:Welche Motivation haben wir dann, damit fortzufahren, uns schuldig deswegen zu fühlen? Für uns war es eine unvernünftige Erwartung an uns.
Es war eine Erwartung von jemand Anderen davon, wie wir sein sollten.
Es war eine Interpretation von jemand Anderen dessen, wie wir sein sollten.

Das ist ein wichtiger Punkt, den es zu verstehen gilt. Weil wir bis jetzt – unseren Wert als eine Person – nach den Standards von jemand Anderem beurteilt haben. Wir haben den Nutzen und den Wert unserer eigenen Gefühle für diejenigen Gefühle von Anderen geleugnet. Wir haben Mächten außerhalb von uns erlaubt, uns zu diktieren, wie wir sein sollten. Die Anerkennung, dass wir versucht haben, einer möglicher Interpretation dessen zu entsprechen, wie wir sein sollten, öffnet die Tür für die Verwirklichung: Dass es nämlich andere mögliche Interpretationen dessen gibt, wie wir sein sollten. Einschliesslich unserer eigenen Interpretation, was auch immer das sein kann – wie auch immer sie aussehen mag (-FF).

Weiter voran!

Was wir jetzt haben, ist eine Gelegenheit, die wir nicht vorher hatten. Durch das (Los-)Lassen der festgelegten Identität ‚des Mannes‘ oder ‚der Frau‘, haben wir jetzt die Gelegenheit, die Person zu werden, die wir abgelehnt und so lange unterdrückt haben. Diese Person könnte unserem ‚festgelegten‘ Selbst in vielen Punkten sehr ähnlich sein, oder sie könnte davon radikal verschieden sein. Wir können schauen, ob wir viele Aspekte von unserem Selbst oder ein paar – oder gar keine davon ändern.

Das Annehmen von uns bedeutet nicht, dass wir irgendetwas Spezielles tun müssen. Tatsächlich können wir nichts anderes ändern als die Weise, wie wir uns wahrnehmen…

Was die vielleicht wichtigste Änderung von allen ist.

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„Auf vielerlei Weg und Weise kam ich zu meiner Wahrheit;
nicht auf Einer Leiter stieg ich zur Höhe, wo mein Auge in meine Ferne schweift.
Und ungern nur fragte ich stets nach Wegen,
– das gieng mir immer wider den Geschmack!
Lieber fragte und versuchte ich die Wege selber.
Ein Versuchen und Fragen war all mein Gehen:
– und wahrlich, auch antworten muss man lernen auf solches Fragen!
Das aber – ist mein Geschmack:
– kein guter, kein schlechter, aber mein Geschmack,
dessen ich weder Scham noch Hehl mehr habe.
»Das – ist nun mein Weg, – wo ist der eure?«
so antwortete ich Denen, welche mich »nach dem Wege« fragten.
Den Weg nämlich – den giebt es nicht!“
Friedrich Nietzsche „Also sprach Zarathustra.“ Kapitel 66

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