Archiv der Kategorie: Gedanken

Prosa, Philosophie, Ethik und „Gedanken“ in Textform.

DAS GLÜCK IN DER SKLAVEREI – Ein Aufstand auf Barbados


„Ein seltsamer Aufstand forderte im Lauf des Jahres 1838 auf der friedlichen Insel Barbados blutige Opfer. Etwa zweihundert Schwarze, Männer und Frauen, sämtlich durch die März-Erlasse in Freiheit gesetzt, suchten eines Morgens ihren früheren Herrn auf, einen gewissen Glenelg, und baten ihn, sie wieder als Sklaven anzunehmen. Eine Klageschrift, verfaßt von einem Anabaptisten-Pastor, wurde vorgelegt und verlesen. Dann begann die Diskussion. Aber Glenelg wollte sich, aus Zaghaftigkeit, Unsicherheit oder einfach aus Furcht vor dem Gesetz, nicht überzeugen lassen. Worauf die Schwarzen ihm zunächst gütlich zusetzten, ihn dann mit seiner ganzen Familie massakrierten, und noch am gleichen Abend wieder in ihre Hütten zogen, ihre Palaver und gewohnten Arbeiten und Riten wieder aufnahmen. Die ganze Sache konnte durch das Eingreifen des Gouverneurs MacGregor schnell unterdrückt werden, und die Befreiung nahm ihren Fortgang. Die Klageschrift übrigens wurde nie aufgefunden.

Ich denke manchmal an diese Schrift. Wahrscheinlich enthielt sie, neben berechtigten Einwänden gegen die Organisation der Arbeitshäuser (workhouses), die Ablösung der Prügelstrafe durch die Gefängnisstrafe, und das Krankheitsverbot für „Lehrlinge“ – so nannte man die neuen, freien Arbeiter – zumindest in Umrissen eine Rechtfertigung der Sklaverei. Zum Beispiel die Bemerkung, daß wir nur für die Freiheiten empfänglich sind, die andere Menschen in eine entsprechende Knechtschaft werfen. Es gibt niemanden, der sich nicht freuen würde, frei zu atmen. Doch wenn ich mir zum Beispiel die Freiheit nehme, bis zwei Uhr morgens lustig Banjo zu spielen, so verliert mein Nachbar die Freiheit, mich nicht bis zwei Uhr morgens Banjo spielen zu hören. Wenn ich es fertigbringe, nichts zu tun, so muß mein Nachbar für zwei arbeiten. Zudem ist bekannt, daß totaler Freiheitsdrang unweigerlich schon bald nicht minder totale Konflikte und Kriege nach sich zieht. Dazu kommt noch, daß, kraft der Dialektik, der Sklave sowieso einmal zum Herrn wird, es wäre falsch, diese naturgesetzliche Entwicklung forcieren zu wollen. Ferner: sich ganz dem Willen eines anderen ergeben (wie dies Liebende und Mystiker tun), ermangelt nicht der Größe und schafft seine eigenen Freuden, so die Freude, sich – endlich! – befreit zu wissen von den eigenen Neigungen, Interessen und Komplexen. Kurz, diese kleine Schrift würde heute, mehr noch als vor hundert Jahren, als Häresie gelten: als gefährliches Buch.
Hier handelt es sich um eine andere Art von gefährlichem Buch, genau gesagt, um ein Erotikum.“

Anne Desclos, Vorwort zu „Geschichte der O“.

Die Hierarchie

ffuhr

In der traditionalen Welt gibt es eine Ordnung. Sie durchdringt den einzelnen Menschen und die Gesellschaft von oben nach unten. Diese Hierarchie sichert der Kultur ihren Bezugsrahmen.

Prototyp der hierarchischen Ordnung ist das Kastenwesen. In unseren Zünften, im Königstum und in unserem Mittelalter finden sich Reste der traditionalen Weltordnung.

Sie basiert auf dem Primat des Geistes, des Lichts und der unbesiegten Sonne. Dieses Prinzip durchzieht alle zu ordnenden Phänomene.

Die moderne Welt dekonstruiert formal und manchmal inhaltlich die Hierarchie. Dabei werden Werte wie Gleichheit und Gerechtigkeit etabliert – Werte, die in der Hierarchie keine Bedeutung erhalten oder in individuellem Streben nach „oben“ oder göttlichem Gesetz ihren Widerpart finden.

Ritterliche Werte wie Treue und Hingabe entfalten ihre Wirkmächtigkeit des bewussten Handelns – der TAT – durch den Freien. Arbeit, die nicht zugleich TAT ist, ist demnach nicht FREI.

In der modernen Sichtweise darf es daher aus Gründen der Gleichheit keine Sklaven geben. Die Moderne verfügt allerdings allenfalls über mittelmässige Werte. Denn Werte lassen sich IMMER an den daraus resultierenden Handlungen auf ihre Nützlichkeit und Anwendung einordnen. Das verarmte Prekariat meines Heimatlandes spricht eine deutliche Sprache! Mit der Gleichheit scheint es nicht weit her zu sein.

Das ist der militärischen, geschäftlichen, politischen und geistigen Führung anzulasten, wenn traditionale hierarchische Ordnungsprinzipien herangezogen würden. Gerade diese Prinzipien werden aber in der säkularen, modernen Welt vehement – und wirksam – abgelehnt. Aus moderner Sicht verschwinden Verantwortung und Schuld. Sie machen Diskurs und Haftpflichtversicherung nötig. Daher laufen politisch orientierte Revolten gegen die Obrigkeit ins Leere. Es gibt keine Führer mehr zu stürzen, weil es keine Führung im traditionalen Sinn gibt.

Damit möchte ich weder einseitig der traditionalen, solaren noch der modernen, lunaren Weltsicht das Wort reden. Mir gilt es, die alten Götter und den einzelnen Menschen gleichermassen in meinen Überlegungen zu berücksichtigen.

Die Macht der Verletzlichkeit (Brenee Brown)

Der folgende Artikel ist ein Transkript eines Vortrags, den Brene Brown auf TED veroeffentlichte. Das Original – Video ist hier zu sehen. Brene Brown – The Power Of Vulnerability

Ich möchte mit dieser Geschichte beginnen: Vor ein paar Jahren rief mich eine Eventmanagerin an, kurz bevor ich einen Vortrag halten sollte. Sie rief mich also an und sagte: “Ich habe echt Schwierigkeiten, wie ich über Sie auf dem kleinen Flyer schreiben soll.” Und ich dachte: “Okay – was ist das Problem?” Sie sagte: “Na ja, ich habe einen Ihrer Vorträge gehört und denke, ich sollte Sie als Forscherin bezeichnen, aber ich fürchte, wenn ich Sie so nenne, dann wird niemand kommen. Sie werden denken, dass Sie langweilig und belanglos sind.” Okay. Und dann sagte sie: “Aber was ich an Ihrem Vortrag mochte, sind die Geschichten, die Sie erzählen. Also dachte ich, ich nenne Sie einfach eine Geschichtenerzählerin.”

Sofort dachte sich der akademische, unsichere Teil in mir so ungefähr: “Sie wollen mich als was bezeichnen???” Sie sagte: “Ich werde Sie eine Geschichtenerzählerin nennen.” Und ich dachte nur: “Warum nicht gleich Zauberfee?” (Gelächter) Ich meinte: “Geben Sie mir einen Moment Zeit, um darüber nachzudenken.” Ich habe all meinen Mut zusammen genommen und dachte: Ich bin tatsaechlich eine Geschichtenerzählerin. Ich bin eine qualitative Sozialforscherin. Ich sammle Geschichten; das ist, was ich tue. Und vielleicht sind Geschichten ja einfach Daten mit Seele. Und vielleicht bin ich ja eine Geschichtenerzählerin. Also sagte ich: “Wissen Sie was? Nennen Sie mich doch einfach eine forschende Geschichtenerzählerin.” Und Sie antwortete: “Haha. Sowas gibt’s doch gar nicht.” (Gelächter) Also bin ich eine forschende Geschichtenerzählerin und ich möchte Ihnen einige Geschichten über meine Forschung erzählen, die meine persönliche Wahrnehmung fundamental erweitert und die Art, wie ich lebe und liebe und arbeite und erziehe wirklich verändert hat.

Und damit beginnt meine Geschichte. Als ich eine junge Forscherin war, Doktorandin, hatte ich in meinem ersten Jahr einen Professor, der zu uns sagte: “Die Sache ist die: “Wenn es nicht messbar ist, dann existiert es nicht.” Und ich dachte, es waere nur Geschwaetz. Ich meinte: “Wirklich?” Und er: “Absolut”. Was Sie dabei wissen müssen: Ich habe einen Bachelor in Sozialarbeit, einen Master in Sozialarbeit und war gerade dabei, meinen Doktor in Sozialarbeit zu machen. Meine gesamte akademische Laufbahn verbachte ich mit Leuten die der Überzeugung waren, dass das Leben ein Durcheinander ist und ich dachte: Aha – Leben ist Chaos, also räum es auf, organisiere es und pack es in eine Box. (Gelächter) Und so meinte ich, meinen Weg gefunden zu haben, einen guten Berufsweg eingeschlagen zu haben. Eine der berühmten Redewendungen im Bereich Sozialarbeit ist: Taste dich in das Unbehagen der Arbeit und ich dachte mir: Nieder mit dem Unbehagen, pack es an und hol überall Einser, das war mein Mantra. Also war ich sehr gespannt darauf. Ich dachte, weißt du was, das ist die Karriere für mich weil ich an den vertrackten Problemen interessiert bin, ich will in der Lage sein, sie zu entschlüsseln. Ich will sie verstehen. Ich will diese Dinge oeffnen, von denen ich weiß, dass sie wichtig sind und will den Schlüssel klar sichtbar machen.

Ich begann bei den Beziehungen. Wenn man seit 10 Jahren Sozialarbeit macht hat man realisiert dass Beziehungen unsere Existenzgrundlage sind. Das ist es, was unserem Leben einen Zweck und Bedeutung verleiht, darum geht es letztendlich. Es spielt gar keine Rolle, ob man mit Leuten spricht die im Bereich Sozialrecht oder seelische Gesundheit, Missbrauch oder Verwahrlosung arbeiten, was wir wissen ist, dass Beziehungen, die Fähigkeit, sich verbunden zu fühlen, — neurobiologisch sind wir auf diese Weise verdrahtet — der Grund sind, warum wir heute hier sind. Also dachte ich mir, ich beginne mit Beziehungen.

Kennen Sie die Situation, wenn sie eine Bewertung von Ihrem Chef bekommen, und sie sagt Ihnen 37 Dinge die sie richtig toll machen, und dann noch eine extra Sache …. und das sei eine Chance für ihre Weiterentwicklung? Alles woran Sie denken können ist diese Chance für Weiterentwicklung, nicht wahr? Nun ja, das bewahrheitete sich schnell in meinem neuen Forschungsprojekt, denn wenn ich Leute nach Liebe fragte, dann erzählten sie mir von Herzschmerz, wenn ich Leute nach Zugehörigkeit fragte, dann sprachen sie von ihren schmerzlichsten Erfahrungen mit dem Gefuehl, ausgeschlossen zu sein und wenn ich Leute nach Beziehungen fragte handelten die Geschichten, die sie mir erzählten, von Trennung.

Ziemlich bald — wirklich schon nach ungefähr sechs Wochen Recherche — traf ich auf eine unbenannte Sache, die Beziehungen gänzlich durchdrang, auf eine Art und Weise, die ich nicht verstand oder nie zuvor gesehen hatte. Ich zog mich aus der Recherche zurück und meinte, ich müsse erst herausfinden worum es sich hier handelt. Es stellte sich heraus, dass es Scham war. Scham ist der Ausdruck von Angst vor Verlassenheit, Trennung, Einsamkeit. Scham fragt: Gibt es irgendwas an mir, das, falls andere Leute davon wissen oder es sehen, dazu fuehrt dass ich unwürdig bin ? Was ich Ihnen heute dazu sagen kann ist : Scham ist universal; wir alle haben sie. Die einzigen Menschen, die Scham nicht kennen haben selbst keine Kapazität für zwischenmenschliche Empathie oder Beziehungen. Niemand möchte darüber reden aber je weniger man darüber redet, umso mehr hat man davon. Was diese Scham untermauert, ist die Ueberzeugung “Ich bin nicht gut genug,” Wir alle kennen das: “Ich bin nicht klar genug. Ich bin nicht dünn genug, nicht reicht genug, nicht schön genug, nicht schlau genug, habe nicht genug Karriere gemacht.” Die Quelle dieser Gedanken ist die Angst vor Verletzlichkeit und das Wissen dass wir uns erlauben müssen, gesehen zu werden – wirklich gesehen – wie wir sind um Verbundenheit zu spueren und Beziehungen zu haben, die uns tragen.

Wissen Sie wie ich mich in Bezug auf Verletzlichkeit fühle ? Ich hasse Verletzlichkeit ! Also dachte ich, das sei meine Chance, mit meiner Messlatte zurückzuschlagen. Ich mach’s, ich werde dieses Zeug ausknobeln, ich werde darauf ein Jahr verwenden, ich werde Scham total dekonstruieren, ich werde herausfinden wie Verletzlichkeit funktioniert und ich werde sie überlisten. Ich war bereit und ich war wirklich enthusiastisch. Sie wissen bereits, es wird nicht gut ausgehen. (Gelächter) Sie wissen das. Ich könnte Ihnen viel theoretisches über Scham erzählen doch ich würde Sie alle damit langweilen. Ich sage Ihnen wie es weiterging — wie es kam dass ich die wichtigesten Dinge herausfand die ich jemals gelernt habe während des Jahrzehnts in dem ich diese Forschung betrieb. Aus meinem einen Jahr wurden sechs Jahre, tausende Geschichten, hunderte lange Interviews, Fokusgruppen. Zeitweise schickten mir Leute Seiten aus Tagebüchern und sie schickten mir ihre Geschichten — tausende Daten in sechs Jahren. Und ich dachte zuerst ich haette sozusagen den Dreh raus.

Ich verstand einigermaßen – das hier ist Scham, so funktioniert sie. Ich schrieb ein Buch, ich veröffentlichte eine Theorie, aber irgendwas war nicht in Ordnung. Es liess mir keine Ruhe. Ich dachte ich würde die von mir interviewten Leute nehmen und sie unterteilen in die Leute die wirklich ein Gefühl von Würde und Wert haben — darauf kommt es letztendlich an, ein Gefühl von Würdigkeit, ein starkes Gefühl der Liebe und Zugehörigkeit – und die Menschen, die sich immer fragen, ob sie gut genug sind.

Es gab nur eine Variable die jene Leute unterschied: Die Leute, die ein starkes Gefühl der Liebe und Zugehörigkeit haben, glauben, dass sie der Liebe und Zugehörigkeit würdig sind. Das ist alles. Sie glauben daran, dass sie würdig sind.

Ich sah deutlich, dass unsere Angst, dass wir nicht würdig sind alle unsere Beziehungen behindert – auch und gerade die Beziehung zu uns selbst. Was ich also machte, war, all die Interviews zu nehmen wo ich Menschen sah, die glauben, wuerdig zu sein und ich betrachtete nur diese.
Was haben diese Menschen gemeinsam? Ich hatte einen Ordner und einen Stift und dachte mir – wie werde ich diese Forschungsarbeit nennen? Und die ersten Worte, die mir in den Sinn kamen, waren ‘ Von ganzem Herzen’. Das sind Menschen ‘von ganzem Herzen’, sie leben aus einem tiefen Gefühl der Würdigkeit. Also beschriftete ich die Ordner und begann damit, die Daten zu betrachten. Eigentlich tat ich das zuerst, in einer vier Tage langen sehr intensiven Datenanalyse, in der ich zurückschaute, und jene Interviews, jene Geschichten und jene Begebenheiten herausfischte. Was ist das Thema? Was ist das Muster? Mein Ehemann verließ die Stadt mit den Kindern, da ich mich ja immer in diesen Wahn wie Jackson Pollock reinsteigere indem ich einfach nur schreibe und in meinem Forschungsmodus bin.

Hier ist, was ich herausfand: Was sie gemeinsam hatten war Mut – und ich möchte Mut und Tapferkeit kurz für Sie unterscheiden. Ich spreche von Mut im Sinne von Courage. Der Begriff Courage entstammt dem lateinischen Wort “cor”, dessen Bedeutung ist “Herz” — und die ursprüngliche Bedeutung war, die eigene Geschichte aus ganzem Herzen zu erzählen. Also hatten diese Leute schlichtweg den Mut unvollkommen zu sein. Sie hatten due Faehigkeit, sich selbst zu lieben und dann die Anderen, denn, wie sich herausstellt, können wir nicht Mitgefühl mit anderen Menschen haben, wenn wir uns selbst nicht liebevoll behandeln. Und dann hatten sie wertvolle mitmenschliche Beziehungen denn — das war der schwierige Teil — als Folge ihrer Authentizität waren sie gewillt die Vorstellung sie muessten etwas und jemand Bestimmtes sein loszulassen. Das muss man unbedingt tun wenn man Verbundenheit und Liebe fuehlen will.

Die andere Sache, die ihnen gemeinsam war: Sie nahmen Verletzlichkeit ganz bereitwillig an. Sie glaubten, dass das, was sie verletzlich macht, sie wunderschön und reich macht. Sie redeten weder über Verletzlichkeit als eine angenehme Angelegenheit, noch redeten sie darüber als eine qualvolle Angelegenheit — wie ich es zuvor in den Interviews zu Scham gehört hatte. Sie redeten lediglich über ihre Notwendigkeit. Sie redeten von der Bereitschaft, zuerst “Ich liebe dich” zu sagen, die Bereitschaft, etwas zu tun bei dem es keine Garantien gibt, die Bereitschaft durchzuatmen, wenn man nach seiner Mammograhpie auf den Anruf des Arztes wartet. Sie waren bereit in eine Beziehung zu investieren, die vielleicht gelingt oder nicht gelingt. Sie dachten alle, dies sei fundamental.

Ich persönlich dachte, es sei Verrat. Ich hatte der Forschung Treue geschworen — die Definition von Forschung ist, Phänomene zu kontrollieren, vorauszusagen und zu studieren um kontrollieren und voraussagen zu können. Und jetzt hatte meine Mission – zu kontrollieren und vorauszusagen – die Antwort hervorgebracht, dass die beste Art zu leben sei, mit Verletzlichkeit zu leben und aufzuhören mit Kontrollieren und Voraussagen. Das führte zu einem kleinen Zusammenbruch — (sie zeigt das Wort ‘Breakdown’ in weisser Schrift auf einem schwarzen Hindergrund) — der eigentlich eher so aussah. (Das Wort ‘Breakdown’ ist duchgestrichen und darunter steht ‘spirituelles Erwachen’)

Und so war es. Ich nannte es einen Zusammenbruch, meine Therapeutin nannte es ein spirituelles Erwachen. Ein spirituelles Erwachen klingt besser als ein Zusammenbruch, aber ich versichere Ihnen, es war ein Zusammenbruch. Und ich musste meine Daten beiseite legen und einen Therapeuten suchen. Sie wissen wer Sie sind, wenn Sie Ihre Freunde anrufen und sagen, “Ich glaube ich muss jemanden aufsuchen. Hast du irgendwelche Empfehlungen?” und ungefähr fünf Ihrer Freunde sagen, “Eijeijeij. Ich würde nicht dein Therapeut sein wollen.” Und ich fragte: “Was soll das heißen?” Und sie: “Weißt du, ich mein ja bloß. Nimm nicht deinen Messstab mit.” Und ich sagte: “Okay.”

Also fand ich eine Therapeutin. Zu meiner ersten Sitzung mit ihr brachte ich meine Akten über die Menschen die von ganzem Herzen leben mit und setzte mich. Sie sagte, “Wie geht es Ihnen?” Und ich antwortete “Mir geht’s super. Alles okay.” Sie sagte, “Was ist los?” Sie ist eine Therapeutin die mit Therapeuten spricht, man sollte zu solchen gehen weil ihre Toleranzgrenzen gegenüber Blödsinn und Jammern hoch sind. Also antwortete ich, “Die Sache ist, dass ich mit etwas zu kämpfen habe.” Und sie sagte, “Womit denn?” Und ich, “Nun ja, ich habe ein Problem mit Verletzlichkeit. Ich weiß, dass Verletzlichkeit die Quelle von Beschämung und Angst und unserem Kampf um Würdigkeit ist, aber es scheint, dass sie auch der Geburtsort von Freude, von Kreativität, von Zugehörigkeit und Liebe ist. Ich glaube, ich habe ein Problem und brauche Hilfe.” Ich sagte auch: “Aber die Sache ist folgende: kein Familienzeugs, keine Kindheitsscheiße.” (Gelächter) “Ich brauche einfach nur ein paar Strategien.” (Gelächter) (Applaus) Danke. Und sie macht so. (Sie nickt nachdenklich und laechelt) Dann sagte ich: “Es ist schlimm, oder?” Und sie antwortet: “Es ist weder gut noch schlecht. Es ist einfach, was es ist.” Und ich sagte: “Ach du liebe Güte, das kann ja heiter werden.”

Und das war es und war es nicht, es brauchte ungefähr ein Jahr. Es gibt Menschen, die, wenn sie realisieren, dass Verletzlichkeit und Zärtlichkeit wichtig sind, kapitulieren und sich damit abfinden. Erstens, das bin nicht ich, zweitens, mit solchen Leuten häng ich nicht mal zusammen ab. (Gelächter) Für mich war es ein 12 Monate währender Strassenkampf, ein Schlagabtausch. Verletzlichkeit schubste, ich schubste zurück. Ich verlor den Kampf, aber gewann wahrscheinlich mein Leben zurück.

Ich ging zurück zur Forschungsarbeit und verbrachte die nächsten paar Jahre damit wirklich zu versuchen zu verstehen, was die, die aus ganzem Herzen leben, für Entscheidungen treffen und was Verletzlichkeit bedeutet. Warum kämpfen wir so viel damit? Bin ich allein in meinem Kampf mit Verletzlichkeit? Nein.
Das ist was ich lernte: Wir betäuben Verletzlichkeit — zum Beispiel wenn wir auf den Anruf warten. Es war komisch, ich schickte auf Twitter und auf Facebook die Frage heraus: “Wie würdest du Verletzlichkeit definieren? Was gibt dir das Gefühl verletzlich zu sein?” Innerhalb von eineinhalb Stunden hatte ich 150 Antworten. Ich wollte wissen, was es dazu zu sagen gibt. Meinen Ehemann um Hilfe bitten zu müssen, weil ich krank bin und wir frisch verheiratet sind; Sex mit meinem Ehemann initiieren; Sex mit meiner Ehefrau initiieren; abgelehnt werden; jemanden einladen mit einem auszugehen; auf den Rückruf des Arztes warten; entlassen werden; Leute entlassen — das ist die Welt, in der wir leben. Wir leben in einer verletzlichen Welt. Und eine der Arten, wie wir damit umgehen, ist die Verletzlichkeit zu betäuben.

Und ich denke es gibt Beweise — es ist nicht die einzige Ursache aber ich denke es ist ein Hauptgrund dafür, dass wir die am hoechsten verschuldete, fettleibigste, süchtigste und medikamentierteste Schar von Erwachsenen in der Geschichte der Vereinten Staaten von Amerika sind. Das Problem ist — und das lernte ich von der Forschungsarbeit — dass man nicht selektiv Emotionen betäuben kann. Man kann nicht sagen, hier ist das schlechte Zeug, hier ist Verletzlichkeit, hier ist Trauer, hier ist Scham, hier ist Angst, hier ist Enttäuschung, ich will die nicht fühlen. Ich werde ein paar Bier und einen Bananen-Nuss-Muffin haben. (Gelächter) Ich will die nicht fühlen. Ich weiß, das ist wissendes Lachen. Ich verdiene meinen Lebensunterhalt damit, Ihre Leben zu durchleuchten. Oh Gott. (Gelächter) Man kann diese schwierigen Gefühle nicht betäuben ohne die anderen Affekte zu betäuben, unsere Emotionen. Man kann nicht selektiv betäuben. Wenn wir also jene betäuben, dann betäuben wir Freude, betäuben wir Dankbarkeit, betäuben wir Glücklich-Sein. Dann fühlen wir uns elend, suchen nach Sinn und Bedeutung im Leben, fühlen uns verletzlich, nehmen ein paar Bier und einen Bananen-Nuss-Muffin. Daraus entsteht ein Teufelskreis.

Eines der Dinge ueber die wir nachdenken müssen ist – warum und wie wir betäuben. Es ist nicht nur Sucht. Wir versuchen auch, alles Ungewisse gewiss zu machen. Religion ist von einem Glauben an Sinn und Mysterium zu einer Gewissheit geworden. Ich habe recht, du hast nicht recht. Halt die Klappe. So ist das. Völlig gewiss. Je ängstlicher wir sind, desto verletzlicher sind wir, desto ängstlicher sind wir. So verhält es sich mit der Politik heutzutage. Es gibt keinen Diskurs mehr. Es gibt keine Gespräche mehr. Es gibt nur Schuld. Wissen Sie wie Schuld in der Forschung beschrieben wird? Eine Art und Weise, Schmerz und Unbehagen abzuladen ! Wir wollen perfektionieren. Wenn es jemanden gäbe, der sein Leben gerne perfekt sehen würde, dann wäre ich das, aber es funktioniert nicht. Denn was wir machen, ist Fett von unseren Hintern zu nehmen und es in unsere Wangen zu spritzen. (Gelächter) Auf das, hoffe ich, werden in hundert Jahren die Menschen zurückblicken und sagen: “Wow.”

Und wir perfektionieren, gefährlicherweise, auch unsere Kinder. Lassen Sie mich Ihnen sagen, was wir über Kinder denken. Wenn sie auf die Welt kommen, sind sie für Probleme vorprogrammiert. Wenn man diese perfekten, kleinen Babies in seiner Hand hält, dann ist unsere Aufgabe nicht zu sagen: “Sieh sie an, sie ist perfekt. Meine Aufgabe ist es, sie perfekt zu halten — sicherzugehen, dass sie es in der fünften Klasse ins Tennisteam schafft und in der siebten Klasse nach Yale.” Das ist nicht unsere Aufgabe. Unsere Aufgabe ist es zu sehen und zu sagen: “Weißt du was? Du bist unvollkommen, und du wirst Probleme haben, aber du bist der Liebe und Zugehörigkeit würdig.” Das ist unsere Aufgabe. Zeigen Sie mir eine Generation von Kinder die so großgezogen wurden, und wir werden die Probleme, die wir heute sehen, beenden. Wir tun so, als hätte das, was wir tun, keine Auswirkungen auf andere Menschen. Das machen wir in unserem Privatleben. Das machen wir in Firmen — egal ob es ein Rettungspaket, eine Ölpest, ein Rückruf ist — wir tun so, als hätte das, was wir tun, keine Auswirkung auf andere Menschen. Ich sage allen – auch den Firmen und Politikern – wir wollen nichts Besonderes, nichts Perfektes. Wir verlangen einfach, dass ihr authentisch und ehrlich seid und sagt: “Es tut uns leid. Wir werden es wieder in Ordnung bringen.”

Doch das ist noch ein weiter Weg, und damit verabschiede ich mich von Ihnen. Das ist, was ich herausgefunden habe: Wir muessen zulassen, gesehen zu werden, tiefgehend gesehen, verletzlich gesehen und lieben mit unserem ganzen Herzen, auch wenn es keine Garantie gibt — und das ist wirklich schwer. Ich kann Ihnen als Elternteil sagen, es ist schmerzlich schwierig Dankbarkeit und Freude zu spueren in jenen Momenten des Terrors, in denen wir uns fragen: “Kann ich dich so viel lieben? Kann ich hieran inbrünstig glauben? Kann ich mich dafuer entscheiden ?” Fähig sein anzuhalten und, statt darüber zu katastrophisieren was passieren könnte, sagen: “Ich bin dankbar, mich verletzlich zu fühlen denn es bedeutet, dass ich lebe.”

Und hier ist das Allerwichtigste : Daran zu glauben, dass wir gut genug sind. Denn wenn wir wissen “Ich bin gut genug.” dann hören wir auf zu schreien und beginnen zuzuhören, sind liebevoller und freundlicher zu uns selbst und liebevoller und freundlicher zu den Menschen um uns herum. (Brene Brown’s Vortrag auf TED)

20130320-094441.jpg

GEWALT

All die unbewusst-automatische Gewalt von mir gegen mich selbst und andere fliesst aus mir. Feingliedrig wird mir klar, dass der Mensch, dem ich unerwartet begegnet bin, die gleiche Gewalt – oder noch Schlimmeres – kennt. Ich ertrage die Vorstellung blauer Flecken aus Dummheit und negativen Affekten kaum. Kein Wunder, dass diese Haut bunt werden will und nicht geschlagen! Wie ignorant ich… sein kann und wie wenig ich verstehe…

Das Gebot des Nicht-Verletzens AHIMSA kommt mir in den Sinn. „We are our brothers and sisters keepers.“ Ich experimentiere mit Hierarchien – ich schaue in den dunkelsten Ecken nach Licht.

Ich weiss, wovon ich rede. Es gibt einen himmelweiten Unterschied zwischen affektgeladener , bewusster-willentlicher Gewalt und konsensueller Über- und Unterordnung. Das ist nicht ganz leicht einzuordnen – mir gelingt das ganz gut: Gewalt zur Durchsetzung meiner ichbezogenen Gründe kann und werde ich niemals mittragen!

Beziehungsweise Werte

in den letzten tagen habe ich viel über das zusammenleben nachgedacht.

ich habe einen wertekodex für mich entwickelt, nach dem ich lebe.

wie sieht deiner aus? hast du einen ? sag mir, wer du bist !

– ich bin ehrlich zu meinen partnern
– ich offenbare von mir aus alles, was bedeutsam sein könnte, selbst wenn das einen partner verletzen könnte
– ich bin bereit, mich mit möglichen negativen affekten zu befassen
– ich respektiere meine …partner in ihrer autonomie
– ich gehe davon aus, dass meine partner für sich selbst sorgen
– ich treffe absprachen und halte mich daran
– meine partner können sich auf mich verlassen
– ich bleibe verbindlich und erneuere / überprüfe immer wieder meine bereitschaft, die beziehung zu meinen partnern aufrecht zu erhalten
– ich nehme eine wohlwollende haltung gegenüber dem verhalten meiner partner ein
– ich widerspreche, wenn es sein muss
– ich bin mir und meinen partnern treu. treue heisst: mein eigenes versprechen zu halten
– ich muss nicht nur einem menschen treu sein
– ich tausche mich mit meinen partnern intensiv aus
– ich übe mich in gewaltfreier kommunikation im alltag
– ich verhandle authentisch und intensiv / tief über die gemeinsamen regeln mit meinen partnern
– ich checke meine eigenen bedürfnisse und kommuniziere sie klar und deutlich
– menschen sind keine gegenstände – ich kann sie nich besitzen
– eingedenk des leids, das durch besitzergreifendes denken und handeln entstehen kann, reflektiere ich meine haltung hierzu immer wieder neu
– mein eigenes verhalten ist von hingabe an meine partner getragen
– meine eigene verpflichtung bestimmt, wie weit ich gehe
– ich nehme nur bewusste verpflichtungserklärungen meiner partner an, wenn diese freiwillig und reflektiert erfolgen
– Ich verhalte mich loyal gegenüber meinen partnerschaften
– mein eigenes commitment leitet mein verhalten
– ohne klares commitment wird niemand mein partner

weil ich es will, nicht weil ich muss oder nicht anders kann.
Ich achte die risiken und möglichkeiten in der balance zwischen autonomie und zugehörigkeit.

Selbstermächtigung

„Selbstermächtigung oder Self Empowerment. Das ist derzeit der für mich griffigste Begriff für den Prozess, sich selbst -so wie man ist – voll anzunehmen, sich die Welt und Alles zu Eigen zu machen und aus diesem Potenzial mit anderen in lebendige Interaktion treten zu können. Das vollständig souveräne, autonome Individuum manifestiert sich in seinen eigenen Handlungen durch seine eigene Selbstermächtigung.

Das ist nicht nur Selbstanerkennung und -liebe, Befreiung von allen Ideen und Gedanken, die nicht die eigenen sind, sondern noch mehr: die Erlaubnis kraft meiner eigenen Macht, mein LEBEN zu gestalten durch meinen Willen.

Der selbstmächtige Mensch : nicht das Ideal einer fernen Zukunft, sondern Realität jedes einzelnen Menschen in jedem neuen Augenblick. Kein neues Dogma, keine weitere Religion, sondern das Ende des Werdens und Suchens: SEIN.“

FF

Antisect: Zeit für einen Wechsel

Antisect

Heute morgen habe ich mir die Zeit genommen zurückzuschauen, woher ich komme.
Ich bin – mal wieder – auch beim cybertribe-Konzept gelandet. Dazu führt Alice aus:

 

„CYBERTRIBES

Die Idee des Cybertribes geht von der Vorstellung eines Netzwerkes von dezentral organisierten kleinen Gruppen aus, welches gesellschaftlich vorherrschende autoritäre Strukturen durch gemeinschaftliche ersetzt.

In seinem Verständnis als moderner Stamm bzw. Tribe bezieht sich der Cybertribe auf das Wissen alter Kulturen ebenso wie auf die Entwicklungen der Gegenwart, die durch die Verwendung des Begriffs ”Cyber” symbolisiert werden. Schamanistische Rituale haben dabei genauso ihren Platz wie das Surfen im Internet, (…) oder das Eintreten für gemeinschaftliche Lebensformen. Dem Cybertribe-Konzept entsprechend bilden diese Tendenzen keinen Gegensatz, vielmehr gehen sie innerhalb einer neuen Kultur eine ergänzende und sich gegenseitig befruchtende Verbindung ein.“

Einer, der sich damit viel befasst hat, ist Wolfgang Sterneck. Auf seiner umfangreichen Website findest Du auch die englische Originalversion von Antisect: Time For A Change, die ich hier übersetzt habe.

Antisect:

Zeit für einen Wechsel

Was ist dein Ziel?
Wer ist dein Gott?
Wer besitzt deinen Verstand?
Welchen Weg verfolgst du?
Für wen sprichst du?
Welche Maske trägst du?
Wer setzt deine Grenzen?
Was ist deine Schwäche?
Wo liegt deine Liebe?
Was sind deine Träume?
Wo sind deine Standards?
Was treibt dich an?
Wie groß ist dein Gefängnis?
Was nährt deinen Hass?
Wo versteckst du dich?
Wo liegen deine Stärken?
Was sind deine Alpträume?

Wann weinst du?
Wie hoch sind deine Wände?
Was ist deine Waffe?
Wie weit kannst du sehen?
Was ist deine Wahrheit?
Wo sind deine Werte?
Was bringt dir Freude?
Für wen blutest du?
Welchen Weg schlägst du ein?
Was trägt deine Last?
Wie groß ist dein Gefängnis?
Wie tief bei deiner Suche?
Wer ist dein Sklave?
Wie hell ist deine Flamme?
Wo ist deine Zukunft?

Was bietest du an?
Was sind deine Barrieren?
Wer besitzt deinen Verstand?
Was ist dein Schild?
Was stiehlst du?
Was ist deine Gerechtigkeit?
Wer ist dein Märtyrer?
Wo ist deine Ecke?
Was ist deine Freiheit?
Was ist dein Frieden?
Was ist dein Ziel?
Worin liegt dein Glaube?
Warum war deine Vergangenheit?
Wen unterdrückst du?
Warum kümmert es dich?
Was ist deine Fessel?

Was benutzt du?
Wie hoch sind deine Wände?
Wo ist dein Grund?
Wo ist dein Feind?
Wie viel kannst du nehmen?
Was ist deine Weisheit?
Was nährt deinen Hass?
Für wen leidest du?
Was ist dein Sündenbock?
Was trägst du vor?
Was ist deine Angst?
Was ist dein Anliegen?
Was ist deine Antwort?
Wie lange Zeit hast du denn?
Was ist die Zeit … ?
Es ist Zeit für einen Wechsel

Grundlegende Fragen

Die Natur erledigt ihre Aufgaben ohne Reue. Jedes Element in ihr verfolgt einen Plan: Überleben! Der Mensch als Teil der Natur sichert sein eigenes Überleben durch vielfältige Handlungen. Der Sinn dieser Unternehmungen liegt letztlich darin, in der Welt zu bleiben. Wir wissen, dass dies aber in letzter Konsequenz eine zeitlich begrenzte Angelegenheit ist. Individuelles Leben endet – früher oder später. Das Ziel des Überlebens kann also nicht vollständig erreicht werden. Das Begehren danach ist bedingungsmäßig unstillbar. Wozu also ein Ziel verfolgen, dessen Erreichung nicht vollständig unter eigener Kontrolle liegt?

Darauf gibt es vielfältige von einfachen bis zu sehr komplexen Antworten. Die Religion, Philosophie, Ethik oder Medizin und Biologie nähern sich dem Thema aus ihren Fachgebieten unterschiedlich. Sicher gibt es auch noch andere wissenschaftliche oder weltanschauliche Positionen, die Beiträge hierzu liefern. ich versuche es einmal ekklektisch. Dabei gehe ich davon aus, dass die Zielerreichung unter eigener Kontrolle des Menschen stehen muss, damit sie größtmögliche Aussicht auf Erfolg hat.

Individuelles Überleben kann nicht dauerhaft gesichert werden, Leben ist endlich. Das muß erst einmal gründlich begriffen werden, bevor man weiter nachdenkt. Das Leben jedes einzelnen Menschen wird irgendwann zu Ende sein. Menschen sterben. Das kann nicht ernsthaft phänomenologisch bestritten werden. Man kann dann verschiedene Stufen des Sterbens genauer anschauen und evtl. beschreiben, wie und wie weit Leben auf den verschiedenen Stufen (noch) identifiziert werden kann. Ich halte das für müßig bezgl. meiner Fragestellung: Welche Konsequenzen ergeben sich aus der Unmöglichkeit dauerhaften individuellen Überlebens für den Einzelnen? Wenn ich von Leben schreibe, meine ich immer dieses individuelle Leben. Wenn Leben oder Überleben als biologisches Prinzip gemeint ist, kennzeichne ich das entsprechend.

Zuerst fällt mir ein, diese Grundtatsache hinzunehmen, sie zu akzeptieren (auch wenn sie einem nicht gefallen muß). Dadurch, dass Leben endlich ist, ergibt sich daraus für mich ein zeitlich endlicher Möglichkeitsraum. Eine erste Konsequenz ist: Leben trägt in sich einen Wert, unabhängig davon, was in diesem Leben getan oder unterlassen wird. Es ist wie ein Geschenk, für das man nichts getan hat. Wir können vor unserer Geburt nicht entscheiden, dass wir leben wollen. Dies liegt ausserhalb der eigenen Kontrolle. Die einzigen Freiheiten, die wir haben sind es, entscheiden zu können, WIE wir leben möchten, woraus ziemlich rasch folgert, WELCHE Möglichkeiten des Lebens wir wahrnehmen und WIE LANGE wir leben möchten (pointierter: WANN wir freiwillig tot sein wollen!).

WIE will ich leben? WELCHE Möglichkeiten will ich nutzen? WANN will ich tot sein? WIE will ich sterben?
Diese vier Hauptfragen kommen mir in den Sinn. Bestimmt gibt es noch jede Menge anderer Fragen oder Ideen. Mich interessieren erst einmal nur diese vier Fragen. Sie sind mir gewichtig genug. Eine vergleichsweise einfache Antwort auf alle Fragen wäre: Ich will leben, wie ich mag und alle Möglichkeiten nutzen. Wenn mir das nicht mehr möglich ist, will ich schnell und schmerzlos sterben. Ich vermute, dass ziemlich viele Menschen so denken oder empfinden. Die Antwort ist nur leider (auch wenn sie ziemlich plausibel erscheint) mit einigen Fallstricken versehen, die es einem ziemlich verleiden könnten, diese Antwort zu LEBEN.

Woher weiss ich denn, was ich mag? Und ändert sich das im Zeitablauf nicht? Es erinnert mich an einen Slogan einer Diätproduktlinie, die dem konsumierenden ICH die Erlaubnis erteilt, zu „bleiben, wie ich bin“. Dieses „bleiben“ ist aber gerade gar nicht möglich! Und was ist mit dem, was man nicht mag? Wer mag schon gerne Klo putzen? Wenn ich es nicht putze, habe ich allerdings recht schnell ein Problem! Oder ist das gar kein Problem, sondern nur scheinbar so? Selbsthilferatgeber sind voll davon, einem Hinweise darauf zu geben, wie man herausfinden kann, was man mag. Oder auch: was man nicht mag. Selbst wenn ich weiss, was ich mag, heisst das noch lange nicht, das ich es auch haben oder tun kann. Ausserdem tritt relativ schnell eine Sättigung ein, wenn man alles, was man mag (auch noch schnell!) bekommt. Der Hedonismus fasst die Position dieser Antwort ganz gut zusammen. Und dieser hat einige Grenzen, mal ganz abgesehen von möglichen moralischen Einwânden. Also gehe ich an die Sache nochmal anders heran. Was passiert denn, wenn ich tu, was mir gerade beliebt, was mir gefâllt, also: was ich mag? Vermutlich wird mir ziemlich schnell langweilig, oder ich gerate in ernste Entscheidungsdilemmata. Ein Stück Sahnetorte oder Leberwurstbrot? Oder beides – und in welcher Reihenfolge? Ins Kino, ein Buch lesen, schwimmen gehen? Uff! Das artet in Freizeitstress aus. Und ist es das, was wir irgendwann meinten, als wir sagten: Ich will leben, wie ich mag? Mir kommt der Song von Pippi Langstrumpf in den Sinn: … Ich mach, was mir gefällt …“. Mit nem Haus, nem Äffchen und nem Pferd und guten Freunden erlebt sie ne Menge Abenteuer. Sie nutzt den Möglichkeitsraum ihres Lebens, könnte man sagen. Aber wir sind ja nicht alle vom Schlage einer Pippi Langstrumpf, einer roten Zora, Robin Hoods oder Klaus Störtebeker. Abenteuer zu erleben scheint aber das Erlebnis, zu machen, was man mag, ganz gehörig zu beeinflussen. Die Lebensentwürfe oder -plänchen sind offenkundig ziemlich individuell. Welch Kontrast zum still meditierenden Zen-Buddhist, den Mönchen und Nonnen der Weltreligionen. Und doch scheinen alle, so etwas wie ein „selbstkongruentes“ Leben zu führen, wenn man ihren Äusserungen hierzu Glauben schenken darf. Und wie sieht es mit der achtzigjährigen Pippi aus? Ohne Pferd und Äffchen (die sind nämlich beide schon über die Wupper!). Also zurück zum Anfang, zur Frage: WIE will ich leben? Ich denke, unser Ausflug zu verschiedenen aber selbstkongruenten Ideen hat v.a. Eines gezeigt: die Antwort ist hochgradig individuell beantwortbar. Kann man leben, ohne sich diese Frage gestellt zu haben? Na klar, null problemo! Ich glaube jeder von uns kennt einige Menschen, die diese Frage wirklich und ehrlich noch nicht einmal begreifen, geschweige denn die Tragweite verstehen. Vielleicht gehören wir sogar manchmal dazu! Ich halte die Frage für wichtig. Wenn ich nicht wenigstens ne leise Ahnung davon habe, WIE ich leben möchte (oder will), was veranstalte ich denn dann während meiner Lebenszeit? Ist Leben dann wertvoll für mich? Ist es kostbar, gar ein Geschenk? Oder nur die zeitliche Abfolge von mehr oder weniger gleichen Tätigkeiten? Welcher Sinn liegt dann in meinem Leben? Meine eindringliche Bitte an meine Leserinnen und Leser. Stellt Euch die Frage immer wieder. Überprüft, ob Euch die Antworten passen, gefallen, verängstigen, schrecken oder Euch amüsieren. Aber stellt Euch die Frage, stellt Euch Euerem eigenen Leben! Die Konsequenz daraus, diese Bitte zu ignorieren, führt letztlich dazu, irgendwann einmal keine Antwort mehr geben zu können und äußerst leidvoll Abschied nehmen zu müssen vom Leben. Klar, sterben müssen wir alle, aber: wieviel Leid und Schmerz muss damit verbunden sein?

Kommen wir zur zweiten Frage: WELCHE Möglichkeiten will ich nutzen? Es ist die zweite Frage, weil Möglichkeiten sich aus den Werten und Haltungen, die in der Antwort der ersten Frage stecken, erst ergeben. Sie werden erst als Möglichkeiten erkennbar, wenn sie im persönlichen „Wertekorridor“ liegen. Denn sonst erscheint Alles als möglich. „Everything goes!“ oder „Geht nicht – gibt’s nicht“ sind die Plattheiten, die uns unbegrenzte Auswahl (unabhängig von unseren Fähigkeiten und unseren Werten) suggerieren. Für den reflektierten Menschen geht eben nicht „alles“. An dieser Stelle habe ich eine Pause gemacht, um eine Spitzmaus zu beobachten, die sich über meine Brotkrumen hermacht und habe dann die Wolken am Himmel angeschaut. Gedankenleer und still, ohne irgendetwas anderes als gerade dies tun zu wollen. Die Rezeption gehört genau so zum Möglichkeitsraum wie die Aktion. Für mich ist die Kontemplation, das „nicht etwas in der Welt tun,“ sehr befriedigend. Und wenn die Schalen der Waage gefüllt sind mit Alleinsein, verlangt Etwas in mir nach Ausgleich. Dann zieht „es“ mich in die Welt mit ihren farbenprächtigen Verlockungen. Nicht, dass in mir nicht auch Farben wären. Aber sie sind eher gedeckt. Manchmal sind es nur Schattierungen von grau, weiss und schwarz. Für mich ist (trotz der Einzigartigkeit und des Wertes von) Leben ne Menge Banalität, Selbstverständlichkeit und ironische Komik darin. Beispielsweise stelle ich mich, was handwerkliche Sachen angeht, ziemlich ungeschickt an, was jeder bestätigen wird, der mich kennt. Ich traue mir das oft auch nicht zu. Aber das ist ein anderes Thema.. In mir selbst gibt es Auslöser und Beweger hin zu möglichen Handlungen. Die Welt bietet mannigfaltige Handlungen (oder Ersatzhandlungen?) an, lädt offenherzig ein, mitzumachen (manchmal kostet das allerdings „Schmerzens-„geld).

Die beiden Fragen nach dem eigenen Tod und dem (selbstgewählten) Moment des Sterbens überlasse ich zunächst einmal Dir allein, liebe LeserIn, lieber Leser …

20130224-194854.jpg

Grundlegende Gedanken zum ICH

20130224-185900.jpg
Jeder Mensch ist Zeit seines Lebens in einem Veränderungsprozess. In diesem tauchen Geburt, älter werden und schliesslich das Sterben als stofflich-materiell erfassbare Zeitpunkte und -räume auf. Dieses elementare Wissen ist im Erfahrungsschatz der Menschheit tief gespeichert. Jedes individuelle Leben manifestiert sich in einer erfahrbaren Person. Diese Person bezeichnen wir als „ICH“. Aus der ICH-Perspektive betrachtet gibt es alles Andere, was nicht ICH ist. Dies gilt für lebendige und nicht lebendige Gegenstände bzw. Objekte.

Nun übersetzen wir das im ersten Abschnitt Geschriebene einmal in eine andere Terminologie. Innerhalb des Vajrayana, die nach Hinayana und Mahayana dritte grosse Hauptlinie des Buddhismus hat sich eine Schule des „Bewusstseins-Wegs“ (Vijnanavada) entwickelt. Im Zentrum dieser Lehre steht die Vorstellung eines überindividuellen Speicherbewusstseins (alaya-vijnana). Die karmischen Überreste einer vergangenen erfahrbaren Person gehen als Samen (vasana) in dieses Speicherbewusstsein ein. Von dort steigen diese auf, um Denktätigkeiten zu bewirken. Dieses Individualdenken wiederum veranlasst den Menschen zu denken, er sei eine reale Person in einer materiell erfahrbaren Welt. Dadurch werden Handlungen hervorgerufen, die Wirkungen auslösen (Karma). Diese wiederum bilden die Grundlage für die „Spuren“ vergangener „Existenz“.
Erlösung (Nirvana) entsteht durch die radikale Unterbrechung dieses Kreislaufes (Samsara). Der Moment der Erkenntnis oben genannter Lehre des „Nur-Bewusstseins“ bewirkt Befreiung (moksha).

Das ist harte Kost für unseren Verstand! Wenn wir uns auf diese Gedanken einlassen, geschieht etwas ziemlich Merkwürdiges: Wenn Alles Produkt unseres Geistes ist, ist nicht nur die wahrnehmbare „Aussen“-Welt eine Konstruktion des Bewusstseins, sondern auch die hiervon abgesonderte wahrnehmende und denkende Person! Das ist damit gemeint, wenn die Buddhisten sagen: Es gibt Taten aber keinen Täter. Es ist dann eben nicht so, dass „jemand“ einen Gedanken „hat“, sondern das kraft der Geistestätigkeit so Etwas wie „jemand“, eine Person, die wir „ICH“ nennen, instantiiert wird.

In einer anderen Lesart im Denken Heraklits bestimmt der überindividuelle „Logos“ die Regeln vom Werden und Vergehen materieller Gegenstände.